„Um zu nehmen, muss man geben“ – Jugendliche reden auf dem Liederfest in Tallinn

Mehr als 82.500 Menschen versammelten sich Anfang Juli 2023 auf der Sängerfestwiese in Tallinn. Foto: Aivar Pihelgas

Vom 30. Juni bis 2. Juli 2023 fand in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, das traditionelle, für die nationale Unabhängigkeit des Landes bedeutsame Singe- und Tanz-Festival der Jugend statt. Dort wurden nicht nur Lieder und Tänze aufgeführt, sondern auch Reden gehalten. Uta Gerlant aus dem VRdS Präsidium, die ihren Sommerurlaub in Estland verbracht hat, war dabei – und von den jugendlichen Rednern beeindruckt.

Im Baltikum hat das gemeinsame Singen Tradition. Eine Tradition, die im 19. Jahrhundert aus deutschen Landen kam, wo sie weitgehend vergessen ist. Esten, Letten und Litauer pflegen sie bis heute um so mehr. 2008 wurden die baltischen Lieder- und Tanzfeste von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt. Singend haben Esten, Letten und Litauer zu Beginn der 1990er Jahre ihre jeweilige Unabhängigkeit errungen, weshalb ihre Freiheitsbewegungen auch singende Revolutionen genannt werden.

Singen, um zu leben

„Danke, dass Du mitgekommen bist. Denn wer nicht beim Liederfest war, der hat nicht gelebt.“ Eine Minirede, die sitzt: die Adressatin mit einer Danksagung angesprochen, Botschaft platziert, fertig. Gut, „…hat nicht gelebt“ erscheint etwas übertrieben, aber die Aussage zeigt, welche Bedeutung die Sprecherin dem Ereignis beimisst. Eine Rede, gerichtet von einer estnischen Frau an ihre Schwiegermutter, die Russisch spricht, aber offenbar Estnisch versteht (bei der Schwiegertochter ist es umgekehrt): Man muss dabei gewesen sein.

Da kann ich nur zustimmen. Ich saß direkt daneben, als diese kleine Ansprache gehalten wurde, Anfang Juli 2023 auf der Sängerfestwiese in Tallinn. Meine estnische Freundin hat sie mir übersetzt. Zusammen mit den jugendlichen Sängern, Instrumentalisten und Tänzern waren wir 82.500 Menschen. Für ein Land mit 1,3 Millionen Einwohnern hat das Gewicht – es ist, als würden sich in Deutschland mehr als fünf Millionen Menschen zum Singen verabreden.

Die Bedeutung des Ereignisses, das alle paar Jahre stattfindet, wurde noch dadurch unterstrichen, dass der Präsident und die Ministerpräsidentin von Estland die gesamten siebeneinhalb Stunden mit allen anderen auf der Wiese ausharrten, einige Stunden davon in strömendem Regen – keine VIP-Lounge, kein Dach, nur einfache Regenpelerinen wie alle anderen auch. Die Stimmung war gut, die Kinder quengelten nicht, alle freuten sich, picknickten zwischendurch, sangen mit. Ein großes Erlebnis!

Mark Metsa, einer der junger Redner, bei seinem Auftritt vor dem Festivalpublikum. Foto: Uta Gerlant.

Reden beim Liederfest

Warum ich darüber in unserem Reden-Blog schreibe? Weil auch Reden gehalten wurden. Die Veranstalter hatten einen Wettbewerb für junge Leute von sieben bis 27 Jahren ausgeschrieben; aus 112 eingesandten Reden wählte die Jury neun aus. Es war das erste Mal, dass so ein Redewettbewerb bei einem Liederfest stattfand, und vielleicht wird daraus ja eine neue Tradition. Da ich nichts verstand, achtete ich zunächst nur auf die Art und Weise des Auftritts – und war beeindruckt. Die Jugendlichen sprachen mit klarer Stimme und natürlicher Mimik, langsam und ausdrucksstark und schauten direkt ins zehntausendfache Publikum. Was für eine Leistung!

Inzwischen habe ich mir die Reden besorgt und übersetzen lassen. Und fand sie rhetorisch stark: bildhaft, auf allgemein bekannte Symbole zurückgreifend, aber auch zarte persönliche Empfindungen ausdrückend. Die Reden sollten das Motto des Jugend-Liederfestes aufgreifen. Und das hieß in diesem Jahr ganz pathetisch „Heilig ist das Land“. Was haben die Jugendlichen daraus gemacht? Pärt Uusberg, der künstlerische Leiter des Liederfestivals, sagte, die Reden spiegelten die aufrichtige Sorge der jungen Leute um Estland und seine Unabhängigkeit wider sowie die Erkenntnis, dass letztere keine Selbstverständlichkeit ist.

„Wir feiern Estland“

Der erste Redner erinnerte an das Erste Allgemeine Liederfest 1869 in Tartu. Dessen Ausrichter, so sagte er, „verbanden sich mit etwas, das kaum wahrnehmbar war.“ Damals hatten die Esten keinen eigenen Staat. „Unsere Vorfahren haben viel gegeben, und nun haben wir endlich auch etwas zu nehmen.“ Seine Botschaft: Um zu nehmen, müssen auch wir heute geben

Der nächste Redner begann mit der rhetorischen Frage: „Was macht Ihr denn hier? Ihr feiert ein Liederfest? Nein […] ich glaube nicht, dass hier jemand ein Liederfest feiert, denn […] heute feiern wir ganz Estland!“ Und patriotisch fuhr er fort: „Manchmal wird gesagt, dass Estland ein kleines Land sei. Allen, die das sagen, empfehle ich, zum Liederfest zu kommen. Schaut Euch um. […] Mir scheint, dass Estland heute das größte Land der Welt ist.“ Anmerkung der Autorin: Es fühlt sich überhaupt nicht bedrohlich oder auf andere Weise unangebracht an, wenn ein kleines Land mit einer langen Geschichte der Fremdherrschaft patriotisch ist. So erklärte eine Rednerin ihre Dankbarkeit, „dass wir an diesen Ufern singen können, um die wir für Jahre kämpfen mussten.“

Metaphern

Eine Rednerin ließ sich besonders vom Festivalmotto inspirieren: „Das Wort heilig ist für mich mit einem Gefühl verbunden – mit Stille erfüllt.“ Und sie findet Bilder dafür: „Licht, das in den Augen der Menschen leuchtet.“ „Manchmal kann dieses Gefühl […] auch auftreten, wenn man in einem Bus steht, umgeben von Menschen, die man nicht kennt, […] mit denen man sich aber wohl fühlt, weil man weiß, dass man mit ihnen verbunden ist […] dass wir alle, auf unsere Weise, ein und dasselbe Ziel anstreben,  [hin] zu einer geheimnisvollen Kohärenz.“

„Was bedeutet also heilig?“ fragte eine andere Rednerin. „Ist es nicht nur ein anderes Wort für Liebe? Heilig ist zerbrechlich. Zerbrechlich wie… ein Winterschmetterling, ein Mondstrahl auf einer alten Hauswand, eine Gasse voller Erinnerungen. Zerbrechlich wie unser Vaterland.“

Naturbilder

Fast alle Redner wählten Naturbilder. Die Natur wird in Estland sehr verehrt, und Bäume oder Steine gelten vielen als heilig: „Mit meiner heutigen Rede möchte ich die Heiligkeit […] feiern. Die Tiere feiern, die Vögel, die Natur feiern. Ich möchte die Sümpfe, die Wälder und die Moore feiern, die Menschen. […] Ich preise die Bienen, die zum Honigbaum fliegen.“ Dies ist eine Anspielung auf ein Lied, das zur Zeit der sowjetischen Besetzung Estlands als heimliche Hymne gesungen wurde, weil die estnische Hymne verboten war. Und das natürlich beim Liederfest gemeinsam zelebriert wurde.

Eine Rednerin erinnerte an die „drei heimischen Farben: weißer Schnee, schwarzer Wald, blauer Himmel“ und beschrieb damit die Trikolore Estlands.

Eine rhetorische Meisterleistung war die Rede von Nora Tamra: „Mein Land ist der Wald.[…] Mein Land ist der Himmel. […] Mein Land ist das Meer. […]  Mein Land bin ich. Ich bin von meinen Wäldern genährt worden mit seinen Tälern und Seen. Ich habe immer den Himmel bei mir gehabt, der mich nie im Stich lässt. […] Das Meer hat mich gelehrt, stark zu sein und gerecht zu allen.“

Dankbarkeit und Sorge

Dankbarkeit für das Vorhandene verbindet sich in den Reden mit Sorge um die Zukunft: „Es ist so schön, morgens im Gras zu laufen, den Tau an den Füßen… Mittags durch das hohe Gras zu gehen, die Sommerabende zu genießen, wenn die Sonne nicht untergeht. […] Ich hoffe sehr, dass ich noch in Jahrzehnten diese Schönheit mit meinen Enkeln teilen kann, dass sie erhalten bleibt.“

Das Bewusstsein für die Bedrohung des Friedens und der Unabhängigkeit Estlands durch den Nachbarn Russland, der dem kleinen Land immer wieder droht, ist sehr ausgeprägt: „Einige haben eine Mission, die Welt zu verändern, andere haben ihre eigene, um zu verhindern, dass sie sich zu sehr verändert“, sagte eine Rednerin.

Die Jugendlichen sehen sich nicht nur als dankbare Empfänger, sondern auch als Menschen mit Aufgaben: „Es ist unsere Pflicht, das Land zu bewahren.“ „Um etwas zu ändern oder zu verbessern, müssen wir aus unserer gewohnten Rolle heraustreten.“ „Vergiss niemals dein eigenes Land oder bleibe allein mit dir selbst ohne Licht.“ Und wie der erste Redner sagte: „Um zu nehmen, muss man geben.“

„Alles ist auf Liebe gegründet… auf der Liebe füreinander und für unser Land,“ sagte Estlands Präsident Alar Karis, der an dem Festival ebenfalls teilnahm und eine kurze Schlussrede hielt. Foto: Ilmars Znotins

Gesang von der Liebe

„Was bedeutet also heilig? Ist es nicht nur ein anderes Wort für Liebe?“ fragte eine Rednerin.

Der Präsident Estlands, Alar Karis, antwortete in seiner kurzen Rede ziemlich zum Ende des Festivals (ja, er sprach als Letzter, völlig unhierarchisch – es war für mich ein Lehrtag in Demokratie): „Alles ist auf Liebe gegründet. […] Auch wenn wir nicht dieses besondere Gefühl, den Geist und die Atmosphäre des Sing- und Tanzfestes in unseren Alltag mitnehmen können, können wir die brennende Liebe mitnehmen, die in dem allen liegt. Wir können die Verbundenheit mit uns nehmen. Und das müssen wir. Wir brauchen uns nicht in allem einig zu sein, aber in dem, worauf es ankommt. […] Wir müssen vereint sein in unserem Willen, alle Menschen, mit denen wir unser kleines Land teilen, zu schützen und zu respektieren. Weil es das einzige Estland ist, das wir haben und weil wir hier gemeinsam leben. All das ist gegründet auf der Liebe füreinander und für unser Land.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.