Rhetorisches Sommergewitter: Brandrede von Wolfgang Reitzle zum Standort Deutschland

Prof. Dr. Wolfgang Reitzle

Als „Brandrede“ werden nicht nur tatsächlich gehaltene Reden bezeichnet, sondern auch schriftliche Texte, die ein brennendes Thema behandeln. So lässt sich auch ein gerade veröffentlichter Zeitungsbeitrag von Wolfgang Reitzle verstehen. Es ist eine im wahrsten Sinne des Wortes „ungehaltene“ Rede, in der er die große Sorge um den Industriestandort Deutschland artikuliert, die derzeit viele umtreibt. Wolfgang Reitzles Text ist ein Musterbeispiel aufrüttelnder Sprache, ein rhetorisches Sommergewitter, in dem sich eine umfassende Kritik an der deutschen Politik entlädt, die er als Gefahr nicht nur für unser Land, sondern für ganz Europa sieht.

Prof. Dr. Wolfgang Reitzle ist einer der erfahrensten und erfolgreichsten deutschen Manager. Seine Karriere begann in der Autoindustrie bei BMW und Ford, anschließend war er zwölf Jahre lang Vorstandsvorsitzender der Linde AG; heute hat der 74-Jährige mehrere Aufsichtsratsmandate inne. Sein Wort hat Gewicht. Wie kaum ein anderer deutscher Top-Manager bezieht er schon seit Jahren dezidiert Stellung zu wirtschaftspolitischen und unternehmerischen Themen. 2021 wurde er mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet, weil er „kein Blatt vor den Mund nimmt“. Und das hat er auch jetzt nicht getan.

Abschied von den Spitzenplätzen

Wolfgang Reitzle zieht Bilanz, wie er es als Unternehmenslenker seit Jahrzehnten tut. Nur ist es diesmal das Unternehmen Deutschland, dessen Bilanz er analysiert – und zwar äußerst kritisch. „Deutschland ist im Niedergang“, lautet sein erster Satz und er unterstreicht ihn mit der Feststellung, dass wir beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nicht mehr zu den Top Ten in Europa und auch nicht mehr zu den 20 wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt gehören.

„16 Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel waren selbst für ein starkes Land wie Deutschland zu viel“, kritisiert er und kratzt damit am Nimbus der Ex-Kanzlerin. In ihrer Amtszeit habe es keine einzige Strukturreform gegeben, die das Land leistungsfähiger gemacht hätte. Vor allem die negativen Auswirkungen der Energiewende und der unkontrollierten Migration kreidet er ihr an.

Kritik an der Abkehr vom Leistungsdenken

Wolfgang Reitzle kritisiert aber auch den allgemeinen gesellschaftlichen Wandel, die Mentalität im Land. In Jahrzehnten der Prosperität sei ein neues Leitbild von „anstrengungslosem Wohlstand und der Abkehr vom Leistungsdenken“ entstanden. 25 Prozent der Grundschulabsolventen erfüllten heute nicht mehr die Basisanforderungen. Er prophezeit, dass derjenige zum Verlierer werde, der „jegliche Leistungsorientierung untergräbt“.

Dass über diese Themen öffentlich zu wenig diskutiert wird, lastet er der Fokussierung auf das Thema Klima an. „Kein anderes Land der Welt verfolgt eine dümmere Klimapolitik als Deutschland, wo man das Weltklima quasi im Alleingang retten will“, spitzt er zu. Dass Deutschland „in Zeiten eklatanten Energiemangels perfekt funktionierende Atomkraftwerke abschaltet“ und durch Atomstrom aus Frankreich und mehr Kohlestrom aus Deutschland ersetzt, lässt an der Glaubwürdigkeit der hiesigen Energiepolitik in der Tat zweifeln.

Deutschland vor gigantischen Wohlstandsverlusten

Scharfe Kritik übt Wolfgang Reitzle auch an Wirtschaftsminister Robert Habeck und Teilen der Medien, denen er vorwirft, den Industriestandort zu ruinieren: „Er und die Grünen sind gemeinsam mit einer großen Glaubensgemeinschaft links-grüner Journalisten auf einer ideologischen Reise, die Deutschland in gigantische Wohlstandsverluste führt.“ Gleichzeitig warnt er aber vor einer Machtübernahme durch rechte Regierungen wie in anderen europäischen Ländern. Dass seine Befürchtungen berechtigt sind, bestätigen aktuelle Umfragen, die den hiesigen Rechtsradikalen einen Höhenflug bescheinigen.

„Deutschland braucht eine Zäsur, eine faktenbasierte Politik der Vernunft und Marktwirtschaft“, mahnt Wolfgang Reitzle am Ende seines Beitrags. Er fordert eine offene Debatte und plädiert für einen „marketplace of ideas“, auf dem hart in der Sache, aber fair im Umgang miteinander diskutiert wird.

Eine offene – und öffentlich breite – Debatte über den Wirtschaftsstandort Deutschland ist angesichts der aktuellen Entwicklung in der Tat wünschenswert und notwendig. Deshalb ein Programmvorschlag an die Öffentlich-Rechtlichen: Ein TV-Talk mit Wolfgang Reitzle und Robert Habeck bei Maischberger oder Lanz. Das wäre doch ein Grund, mal wieder den Fernseher einzuschalten.

 

Der Beitrag von Prof. Dr. Wolfgang Reitzle erschien am 4. August 2023 unter dem Titel "Die Illusion vom anstrengungslosen Wohlstand" in der WELT, befindet sich jedoch hinter einer Bezahlschranke. Ein rhetorisches Glanzstück war seine Dankesrede anlässlich der Verleihung des Ludwig-Erhardt-Preises für Wirtschaftspublizistik 2021, die hier dokumentiert ist.

 

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