Corona und kein Ende? Am 28. Oktober 2020 beschlossen Bund und Länder einen zweiten Lockdown, einen Tag danach, am 29. Oktober 2020, debattierte darüber der Deutsche Bundestag. Angesichts der weitreichenden, die Grundrechte und das gesellschaftliche Leben erneut stark einschränkenden Maßnahmen erstaunt die Reihenfolge. Musste nicht zuerst im Parlament beraten und dann entschieden werden?
Nein, das musste es nicht. Denn in der Tat hatte der Bundestag der Bundesregierung schon im März umfassende Befugnisse zum Kampf gegen Corona eingeräumt. Dennoch machte sich nicht nur in den Medien und bei den Oppositionsparteien allmählich Unmut über die mangelnde parlamentarische Diskussion über die Pandemiemaßnahmen bemerkbar. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mahnte am 19. Oktober 2020 an, „dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss, um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative“.
Denkwürdige Debatte
Vor diesem Hintergrund kam es in der 186. Sitzung des Deutschen Bundestages am 29. Oktober 2020 zu einer denkwürdigen Debatte über die aktuellen Beschlüsse zur Corona-Krise. Es lohnt sich, sie sich im Internet nochmals in voller Länge anzuschauen und die politischen Akteure auf der Bühne des Bundestags authentisch zu erleben. Alle 14 Reden der rund zweistündigen Debatte sind auf der Webseite bundestag.de in Video-Aufzeichnungen samt schriftlichen Protokollen dokumentiert und jederzeit abrufbar – eine Fundgrube auch für den Oberstufenunterricht oder für Politik- und Rhetorikseminare.
Es ging darum, welche Maßnahmen in der sich aktuell zuspitzenden Situation für unser Land richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen sind, es ging um existenzielle Fragen von Leben und Tod und um grundsätzliche Fragen von Freiheit und Verantwortung. Die Kräfteverhältnisse im Bundestag sind klar, daher war nicht zu erwarten, dass die Beschlüsse revidiert würden, aber wie sie kritisiert und verteidigt wurden, das war spannend und aufschlussreich. In den Reden konnte man verfolgen, wie schwierig es ist, Antworten auf die Herausforderungen der Pandemie zu finden. Und es gab rednerische Höhepunkte, in denen Leidenschaft aufblitzte.
Mit Klingelglöckchen und klarer Ansage
Den ersten Akzent setzte Wolfgang Schäuble in seiner Funktion als Bundestagspräsident, indem er mit der Autorität seines Amtes und der ihm eigenen Schärfe dafür sorgte, dass die Debatte in zivilisiertem Rahmen ablief. Als in den ersten Minuten der Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel die aus den Reihen der AfD ertönenden Zwischenrufe zu einer lärmenden Geräuschkulisse anschwollen, dämmte er diese mit Klingelglöckchen und klarer Ansage wirkungsvoll ein: „Ich glaube, niemand in unserem Lande hätte Verständnis dafür, wenn wir uns nicht die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin in dieser schwierigen Lage zu diesen schwierigen Maßnahmen mit der gebotenen Disziplin anhören würden. Darum bitte ich dringend,“ brachte er die Pöbler zur Räson.
Gewohnt unprätentiös, aber auch empathisch
Die Bundeskanzlerin setzte daraufhin ihre argumentativ gut aufgebaute Regierungserklärung weitgehend ungestört fort, die sie mit den Zahlen zur dynamischen Entwicklung der Neuinfektionen und der Lage auf den Intensivstationen der letzten Tage eingeleitet hatte. Sie bezeichnete die deshalb beschlossenen Maßnahmen als „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“, und erklärte kategorisch, es gäbe „kein anderes, milderes Mittel als konsequente Kontaktbeschränkungen, um das Infektionsgeschehen zu stoppen und umzukehren und damit auf ein beherrschbares Niveau zu bringen.“ Ihr stärkstes Argument war der Hinweis auf die womöglich nicht ausreichenden Kapazitäten auf den Intensivstationen, wenn der Trend anhielte und nichts unternommen würde. Insgesamt wirkte die Kanzlerin gewohnt unprätentiös, äußerte aber auch Empathie: „Viele Maßnahmen waren und sind eine ungeheure Belastung, […] und sie treffen uns im Kern unseres menschlichen Miteinanders,“ bekannte sie und bedankte sich ausdrücklich dafür, „wie all diese Anstrengungen von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hingenommen werden.“ Darin zeigte sich, dass Bundestagsreden nicht nur an die anwesenden Parlamentarier, sondern an die ganze Bevölkerung adressiert sind. Wobei die Zielgruppe der Bundeskanzlerin nicht nur Bildungsbürger sind, wie ein Zitat der Wissenschaftsjournalistin und YouTuberin Mai Thi Nguyen-Kim belegte, das es bis in ihr Redemanuskript geschafft hatte:„Nee, Virus, hast du denn gar nichts aus der Evolution gelernt? Da haben wir Menschen ja schon mehrfach gezeigt, dass wir verdammt gut darin sind, uns in schwierigen Situationen anzupassen. Wir werden dir zeigen, dass du dir den falschen Wirt ausgesucht hast.“ Nun denn, mögen die Maßnahmen des Bundes und der Länder helfen, ihm den Garaus zu machen.
In Kriegsmetaphorik verstiegen
Überlegungen, wie den aktuellen Corona-Infektionen zu begegnen ist, machte sich der zweite Debattenredner, Alexander Gauland von der AfD, dagegen weniger. Kühl, abgeklärt und unempathisch zog er einen Vergleich mit dem Straßenverkehr heran, der ja auch Menschenleben kosten und nicht abgeschafft würde. Zynisch nannte das im späteren Verlauf der Debatte die Rheinland-Pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Alexander Gauland stellte fest, dass das Infektionsgeschehen zwar nicht mehr kontrollierbar sei, aber dass es dennoch vergleichsweise wenige Tote gäbe. „Angst ist ein schlechter Ratgeber“ meinte er, „das tägliche Infektionszahlenbombardement soll aber den Menschen offenbar Angst machen, weil die meisten im Alltag nichts von Covid-19 sehen.“ Es handele sich um “Kriegspropaganda“ wozu passe, „dass wir neuerdings von einem „Kriegskabinett, dem Coronakabinett regiert werden“, verstieg er sich. Doch obwohl er die Kriegsmetaphern reichlich strapazierte, wirkte Alexander Gauland selbst nicht kämpferisch, sondern eher abgekämpft.
Deformation der parlamentarischen Demokratie
Die überzeugendere Oppositionsrede hielt Christian Lindner von der FDP. Anders als man es von ihm gewohnt ist, las er den Redetext ab, was zeigte, wie wichtig es ihm war, jedes Argument präzise vorzubringen. Seine zentrale Forderung lautete, die Diskussion um die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wieder in die Parlamente zurückzuholen, womit er nicht alleine stünde: „Alle Fraktionen dieses Hauses sehen inzwischen diese Notwendigkeit, außer der Unionsfraktion alle auch mit hoher Dringlichkeit,“ betonte er, was sogar ein Zwischenrufer aus der Fraktion DIE LINKE bestätigte. Christian Lindner beklagte, dass der Deutsche Bundestag die am Vortag getroffenen Beschlüsse nur noch nachträglich zur Kenntnis nehmen konnte und kritisierte, „solche Entscheidungsprozesse gefährden nicht nur die Akzeptanz der Coronamaßnahmen, sie enthalten auch erhebliche rechtliche Risiken und drohen unsere parlamentarische Demokratie zu deformieren.“ Er warf der Regierung „aktionistisches Krisenmanagement“ vor und appellierte an die Regierungsfraktionen: „Eine vertiefte Debatte über Alternativen zu den beispiellosen Freiheitseinschränkungen dieser Tage findet hier im Zentrum unserer Demokratie indessen nicht hinreichend statt. Aber jeder Vorschlag, der Gesundheitsschutz und Freiheit in eine bessere Balance bringt als Ihre Politik, hätte eine ernsthafte und ergebnisoffene Prüfung verdient.“
Emotional, mitreißend, brillant
Die Replik folgte auf dem Fuße, und zwar von dem emotionalsten Debattenredner des Tages, Ralph Brinkhaus, der die CDU/CSU-Fraktion anführt. „Ernsthafte Bemühungen, dieses Land irgendwie vor einer schweren Pandemie zu retten, als Aktionismus zu bezeichnen, ist eines Liberalen unwürdig. Ihre Vorgänger hätten sich dafür geschämt,“ attackierte er Christian Lindner heftig. Darauf folgte eine frei vorgetragene, mitreißende, brillante Lobrede auf die Menschen im Land und ihre Leistungen in der Coronakrise. Vehement verteidigte er die Bund-Länder-Beschlüsse des Vortages: „Beschlüsse müssen ehrlich sein, sie müssen klar sein, sie müssen einig sein, und sie müssen furchtlos sein, weil man den Menschen auch was zumuten muss. Und die Beschlüsse von gestern sind klar, einig, furchtlos, und sie muten den Menschen was zu, und das haben wir uns nicht ausgesucht.“ Rhetorik vom Feinsten. Die Forderung der Opposition, die Einschränkungen der Grundrechte und Freiheit immer wieder auf ihre Richtigkeit und Angemessenheit zu hinterfragen, stellte er freilich nicht in Frage. Aber er warnte davor, den Freiheitsbegriff darauf zu reduzieren, „dass die Starken ihre Freiheit ausüben können“ und ihn dadurch zum Recht des Stärkeren zu degenerieren. Sein Credo: bei allen Entscheidungen auf die Freiheit der Schwachen – und somit der an Covid-19 Erkrankten – zu achten. Denn man könne alle Fehler bei den Schließungen etwa von Betrieben oder Bildungseinrichtungen korrigieren, aber „der Tod eines Menschen, der Tod eines nahen Angehörigen ist irreversibel.“
Mangelnde Vorbereitung kritisiert
Die Kritik an der Regierung war damit jedoch nicht vom Tisch. Nachdenkliche Töne schlug im weiteren Verlauf der Debatte Katrin Göring-Eckardt von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an, die der Bundesregierung mangelnde Vorbereitung auf die erwartbar steigenden Infektionszahlen im Herbst vorwarf. „Im Sommer schien alles schön; es fühlte sich an, als gäbe es gar kein Corona. Gut für die Bürgerinnen und Bürger, die Urlaub hatten und machen konnten. Allerdings scheint es mir so, als ob dieses Gefühl von Pause auch bei der Bundesregierung um sich gegriffen hat und sie im Sommer irgendwie vergessen hat, dass es Corona gibt.“ Satz für Satz steigerte sich ihre dramaturgisch perfekte Rede, und von energischen, wohlgesetzten Gesten untermauert kam auch von ihr der Aktionismusvorwurf: „Gewusst haben wir alle, dass der Herbst kommen wird, dass es kälter wird, dass die Infektionszahlen steigen werden. Aber Sie waren nicht vorbereitet. Stattdessen erst mal hektisches Agieren, Wirrwarr, Hin und Her, Bund und Länder, dies und jenes, Flickenteppich in Deutschland. So ist aus der Infektionskrise auch eine Vertrauenskrise geworden.“ Katrin Göring-Eckardt forderte deshalb, die „tief in unseren Alltag eingreifenden Beschränkungen“ endlich auf „solide gesetzgeberische Füße“ zu stellen und sagte: „Es macht keinen Sinn, dass dieses Parlament nach den Entscheidungen gestern hier debattiert. Es ist gut, dass wir Argumente austauschen. Aber die Beschlüsse gehören hierher.“ Sie appellierte nachdrücklich an das Selbstbewusstsein der Parlamentarierinnen und Parlamentarier und pochte auf Rechtssicherheit und Nachvollziehbarkeit der notwendigen Beschlüsse, um die Coronakrise zu meistern.
Reflex zum Durchregieren keine Alternative
Die Brücke von der Regierung zur Opposition in der Frage der zukünftigen Rolle des Bundestages bei den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung schlug der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. Er betonte in seiner sehr sachlichen, in ruhigem Ton vorgetragenen Rede, dass von Anfang an die „weitreichende Ermächtigung der Exekutive im Infektionsschutzgesetz eine Möglichkeit auf Zeit“ gewesen sei, um Gefahren von der Bevölkerung abwehren zu können. Auch sei die Zeit, in der eine „maximale Flexibilität der Exekutive“ benötigt würde, angesichts des gegenwärtigen Infektionsgeschehens mit einem rapiden Ansteigen der Ansteckungen noch nicht vorbei. Gleichwohl ging er auf die Oppsition zu und bekannte: „Eines der Wesensmerkmale unseres Grundgesetzes, meine Damen und Herren, ist die Mitbestimmung und Mitverantwortung vieler, hervorgegangen aus freien und demokratischen Wahlen.“ Seine Schlussfolgerung: „Selbst in unsicheren Zeiten ist der Reflex zum Durchregieren keine Alternative zum mühsamen Konsensprozess.“
Das Parlament als Ideenschmiede
Na also, es geht doch: Krisenkommunikation ist das Gebot der Stunde. Die Debatte war in der Tat überfällig und zeigte, dass sich der Deutsche Bundestag glücklicherweise nicht im Lockdown befindet, sondern quicklebendig ist und beachtliche Redebeiträge zu Tage fördert. Es wurde deutlich, dass die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung künftig intensiver öffentlich diskutiert werden müssen, um weiterhin das Vertrauen der Bevölkerung zu erlangen. Niemand erwartet von den politischen Entscheidungsträgern, unfehlbare Beschlüsse zu fassen. Aber die Argumente, die zu Beschlüssen führen, könnten durch Beteiligung des Deutschen Bundestages besser durchdacht und abgewogen werden. Dazu muss man sich das Parlament nicht als trägen Apparat vorstellen, der nur zum Abnicken da ist, sondern als vorausdenkende, aber auch reaktionsschnelle Ideenschmiede, in der aus ganz unterschiedlichen Richtungen und Ansätzen die besten Lösungen generiert werden.