Vor 240 Jahren, am 24. Februar 1784, hielt Johann Wolfgang von Goethe seine erste öffentliche Rede, die auch seine einzige geblieben ist. Nicht als Dichter sprach er, sondern als Politiker. Anlass war die Wiederinbetriebnahme des Ilmenauer Bergwerks, für das er als Minister in Diensten des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach verantwortlich war. Dass die Rede nicht in Vergessenheit geraten ist, lag nicht zuletzt an einer schier endlosen Pause, die eintrat, als Goethe plötzlich den Faden verlor. Mindestens zehn, eher zwanzig Minuten lang soll sein rätselhafter Blackout gedauert haben. Doch das Publikum ertrug ihn ohne Murren. Selig die Zeiten, als es noch keinen Teleprompter gab.
Es war ein großer Tag für Ilmenau. Politiker, Beamte, Honoratioren und Investoren hatten sich im Rathaus der thüringischen Stadt versammelt, gespannt auf Goethes „Rede bey Eröffnung des neuen Bergbaues zu Ilmenau“. Die Feier war bewusst auf den traditionellen Faschingsdienstag gelegt worden, die Stimmung prächtig. Draußen wartete die Bevölkerung, um anschließend mit der Versammlung zum neuen Schacht zu ziehen und den Anstich zu feiern.
Goethe hatte eine in Stil und Aufbau mustergültige, mit reichlich Pathos gewürzte Rede vorbereitet, die eine Mischung aus Fest- und Wirtschaftsrede war. „Glück auf! Wir eilen einem Platze zu, den sich unsere Vorfahren schon ausersehen hatten, um daselbst einen Schacht niederzubringen,“ rief er den Versammelten zu. „Dieser Schacht, den wir heute eröffnen, soll die Thüre werden, durch die man zu den verborgenen Schätzen der Erde hinabsteigt, durch die jene tiefliegenden Gaben der Natur an das Tageslicht gefördert werden sollen.“
Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln war Goethes Absicht, denn das für die Stadt und die Region bedeutsame Projekt war mit erheblichen Risiken verbunden. Bereits im 15. Jahrhundert hatte es in Ilmenau eine Kupfer-, Blei- und Silbergrube gegeben. Sie war jedoch nach einem Einsturz schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb. In Goethes Verantwortung lag es nun, sie wiederzubeleben und der Region zu wirtschaftlichem Aufschwung zu verhelfen.
Geheimrat und Bergwerksdirektor
In die Politik kam Goethe 1775, als er von seinem Freund Carl August, dem Fürsten des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, an den Weimarer Hof berufen und 1776 zum Geheimen Legationsrat ernannt wurde, zuständig für Bergwerksangelegenheiten, Kriegswesen und Straßenbau. 1777 wurde er Mitglied der „Bergwercks-Commission“ und 1780 deren Direktor. Er widmete sich seiner Aufgabe mit großer Sorgfalt. So ließ er das Gelände gründlich untersuchen und fachmännische Gutachten erstellen, um die Wiederaufnahme des Ilmenauer Bergbaus auf eine sichere Grundlage zu stellen. Gleichzeitig musste er Investoren finden und von den Gewinnmöglichkeiten überzeugen, um die Finanzierung des Bergwerks zu sichern. Für die Anfangsinvestition wurden 20.000 Reichstaler benötigt, wozu Anteilsscheine, sogenannte Kuxe, ausgegeben wurden, 1000 Stück à 20 Taler. Goethes Engagement war auch sozial motiviert, er wollte den „armen Maulwürfen“, wie er die Bergleute nannte, „Beschäftigung und Brod“ geben.
Für Goethe war die Beschäftigung mit dem Bergbau mehr als eine Pflicht, ja sein ganzes Interesse für Geologie und andere Naturwissenschaften wurde durch diese Tätigkeit geweckt. „Ilmenau hat mir viel Zeit, Mühe und Geld gekostet; dafür habe ich aber auch etwas dabei gelernt und mir eine Anschauung der Natur erworben, die ich um keinen Preis umtauschen möchte,“ sagte er später einmal.
Mit einemmale aber schien er wie von seinem guten Geiste völlig verlassen, der Faden seiner Gedanken war wie abgeschnitten.
Seine Eröffnungsrede hatte Goethe sorgfältig vorbereitet und auswendig gelernt. Auch das Manuskript soll er bei sich getragen haben. Und trotzdem kam es zu dem legendären Aussetzer. Goethes Vertrauter Eckermann hat das Ereignis überliefert; er war knapp fünf Jahrzehnte später Gast einer Abendgesellschaft, bei der ein Zeitzeuge die Anekdote von Goethes Verstummen erzählte: „Er schien seine Rede gut im Kopfe zuhaben, denn er sprach eine Zeit lang ohne allen Anstoß und vollkommen geläufig. Mit einemmale aber schien er wie von seinem guten Geiste völlig verlassen, der Faden seiner Gedanken war wie abgeschnitten, und er schien den Überblick des ferner zu Sagenden gänzlich verloren zu haben. Die hätte jeden andern in große Verlegenheit gesetzt; ihn aber keineswegs. Er blickte vielmehr wenigstens zehn Minuten lang fest und ruhig in den Kreis seiner zahlreichen Zuhörer umher, die durch die Macht seiner Persönlichkeit wie gebannt waren, so daß während der sehr langen, ja fast lächerlichen Pause jeder vollkommen ruhig blieb. Endlich schien er wieder Herr seines Gegenstandes geworden zu sein, er fuhr in seiner Rede fort und führte sie sehr geschickt ohne Anstoß bis zu Ende, und zwar so frei und heiter, als ob gar nichts passiert wäre.“*
Goethes Blackout hat Biografen, Historiker, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und sogar Psychoanalytiker beschäftigt. Nicht überliefert ist, an welcher Stelle er nicht mehr weitersprach, was breiten Raum für Interpretationen und Spekulationen ließ. Unter dem Titel „Mutmaßungen über ein Verstummen“ hielt der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg 1999 einen bemerkenswerten Vortrag, in dem er Goethes Pause als absichtliches Schweigen interpretierte – eine Kunstpause also? Heute ist es kaum vorstellbar, dass ein Redner minutenlang schweigt, ohne dass das Publikum unruhig wird – Mutige können es bei nächster Gelegenheit ja einmal ausprobieren.
Drama im Kopf
Profis wissen, dass Redeangst ganz normal ist und bereiten sich darauf vor, in stressigen Situationen souverän zu reagieren. Goethe war offensichtlich nicht vorbereitet. Die Schilderung des Augenzeugen klingt nicht nach Absicht. Versuchen wir, uns in Goethes Lage zu versetzen. Er war zum Zeitpunkt seiner Rede 35 Jahre alt, sprach zum ersten Mal öffentlich vor einem großen Publikum und der Anlass der Rede war von außerordentlicher Bedeutung. Vielleicht war ihm nicht bewusst, unter welchem Druck er stand. Als gefeierter Dichter und Sprachgenie, ausgestattet mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein, hatte er vielleicht nicht damit gerechnet, dass ihm so etwas passieren könnte. Aber warum hat er nicht einfach das Manuskript aus der Tasche gezogen, um den Faden wieder aufzunehmen? Verbat es ihm sein Stolz? Wollte er seinem Anspruch treu bleiben, die ganze Rede auswendig zu halten? Und doch tat er dann instinktiv etwas Richtiges und blickte scheinbar unbeirrt weiter ins Publikum.
Welches innere Drama sich auch immer in den zehn oder gar zwanzig Minuten in Goethes Kopf abgespielt haben mag – er blieb äußerlich gelassen und behielt sein Publikum fest im Griff. Eine magische Szene. Ganz großes Kino, pardon Theater. Goethe selbst hat sich übrigens nie zu dem Vorfall geäußert. Aber dass er nach Ilmenau nie wieder eine öffentliche Rede gehalten hat, sagt vielleicht alles.
* Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Band 3, Leipzig 1848, Seite 351