Ende Juni hörte ich eine fesselnde, harte und zugleich gefühlvolle Rede, die mich voll teilhaben ließ an der Verzweiflung und Verbitterung, aber auch leisen Hoffnung einer Schriftstellerin, geboren 1983 in der Ukraine – die „Klagenfurter Rede zur Literatur 2023“ von Tanja Maljartschuk. Die Rednerin war keine Unbekannte; sie ist eine erfolgreiche, mehrfach ausgezeichnete Autorin und Kolumnistin. ABER: sie sei sprachlos geworden angesichts des brutalen Angriffskrieges gegen ihr Land, „der schmerzt und stumm macht, so wie jeder andere Krieg aus der Vergangenheit dies auch getan hat. Wie mir scheint, ist es ein ewiger Krieg, der … nicht aufhört, egal wie sehr wir es uns wünschen“, wie sie uns mit wütend-traurigen Worten erläutert.
Die Sätze waren aus Tanja Maljartschuks Eröffnungsrede bei den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur, die vom 28. Juni bis 2. Juli in Klagenfurt (Bundesland Kärnten) über die Bühne gingen. 12 Autorinnen und Autoren aus Österreich, Deutschland und der Schweiz beteiligten sich am berühmten Wettlesen um den renommierten Ingeborg Bachmann-Preis.
Für mich als Redenschreiberin ist die Einleitung mit der traditionellen „Klagenfurter Rede zur Literatur“ oft noch interessanter als das Vorlesen neuer literarischer Werke selbst. Dieses Jahr war es eben Tanja Maljartschuk, die mich sehr beeindruckt hat.
Ihre Worte unter dem Titel „Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf“ gingen unter die Haut. Stark, bewegend, eindrucksvoll, emotional. Sie hallten noch lange nach; bei mir zu Hause, aber auch beim Publikum vor Ort, wie ich später lesen konnte.
Es war natürlich naheliegend, dass es ihr um das Thema Schreiben in Zeiten des Ukraine-Krieges, über Macht und Ohnmacht von Sprache bzw. von Literatur insgesamt zu tun war. Bemerkenswert war jedoch, dass sie dabei nicht mit Kritik sparte an ihrer eigenen Profession, die „schmutzige“, die „schimmelige“ Seite von Sprache und ihr Versagen nicht aussparte. Ihre Überlegungen dazu verwob sie mit dem Schicksal der Ukraine im Zweiten Weltkrieg, der Zeit danach in der Stalin-Diktatur sowie dem Schicksal ihrer Familie und ihren eigenen Lebensumständen.
Und das alles auf lediglich sechs Seiten Redemanuskript. Hier einige markante Passagen:
Die „gebrochene Autorin“
Gleich zu Beginn lässt Tanja Maljartschuk mit einem emotionalen Einstieg aufhorchen. Sie bezweifelt, der Ehre würdig zu sein, die „Klagenfurter Rede zur Literatur 2023“ zu halten: „Denn ich betrachte mich selbst eine gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – schlimmer noch – in die Sprache verloren hat“. Und weiter über den Grund ihres Verstummens: „Seit über einem Jahr, das sich wie drei Ewigkeiten anfühlt, führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen mein Land …“.
Sprache ist nie unschuldig
Sie bekennt: „…. ich habe Angst bekommen vor der Sprache, die Millionen von mehrheitlich friedlichen Bürgern überzeugen kann, im Recht zu sein, andere zu ermorden“. Sprache könne die schönsten Gedichte hervorbringen, und gleichzeitig dazu dienen, Befehle kundzutun, zum Abschuss von Raketen, die Zivilisten töten oder zum Vorrücken von Panzern. Sprache, so ihre Schlussfolgerung, „ist daher nie unschuldig!“
Schöne Literatur in einer grauenvollen Welt
Sie frage sich, so Tanja Maljartschuk, hör- und sichtbar von Zweifeln geplagt, „ob es nicht zu wenig ist, eine Autorin zu sein“. Immer wieder werde gefragt, ob die Literatur sich vor den Hundertausenden von Opfern, zerstörten Städten und auseinandergerissenen Familien in der Uneindeutigkeit der Metaphern verstecken könne…. Ob eine schöne Literatur angesichts des Grauens in der Welt noch möglich wäre, angemessen, berechtigt – oder doch barbarisch? „Diese Frage stellt sich nun auch mir ganz persönlich…“
Unfähig, die Dinge so zu benennen, wie sie sind
Sie beschönigt nichts, wenn sie intensiv die andere, die „schmutzige“, die „schimmelige“ Seite der Literatur betrachtet: „Wie oft hat sie Gewalt als Liebe definiert, Mord als Rettung verschönert, Arroganz als Würde gezeigt. Wie oft hat sie die Umbringer, die Auslöscher und die Gauner sämtlicher Sorten verherrlicht und verharmlost. Wie oft war die Literatur unfähig, die Dinge so zu benennen, wie sie sind. Und wie oft hat sie Opfer nicht sprechen lassen“.
Literatur vs. Realität: Und die Realität gewinnt jedes Mal
Den Großteil der Rede widmet Tanja Maljartschuk ihrem Roman, der im Februar letzten Jahres „für immer unvollendet geblieben ist“. Es wäre eine literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust in der Ukraine gewesen, die Verstrickung des Landes in die Schrecknisse des Nazi-Terrors und die grausame Ermordung jüdischer Mitbürger im Herkunfts-Dorf ihrer Familie.
Sie wollte das Unausgesprochene, Verschwiegene, Verdrängte endlich zur Sprache bringen. Ein sollte ein Roman werden gegen das Vergessen von Gräuel in einer ungeheuerlichen Zeit. Tanja Maljartschuk recherchierte intensiv, auch in Wien. Dann konfrontierte sie ihren Vater, so erzählt sie in der Rede, mit ihren Ergebnissen und eindeutigen Dokumenten. Doch der will nicht darüber reden, nichts davon wissen, auch nichts darüber hören. Wozu über Vergangenes reden, „wenn 150.000 russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine stehen (bekanntlich vorbereitet durch absurde Nazi-Vorwürfe der Kreml-Führung)?“ ist seine einzige Antwort.
Von diesem Moment an, so hören wir, war es Tanja Maljartschuk unmöglich weiterzuschreiben. Die historischen Zusammenhänge, so sagte sie schon davor in einem Interview, wurden komplett aus den Angeln gehoben. „Und so treffen sie sich: die Literatur und die Realität. Und die Realität gewinnt jedes Mal, und die Literatur verliert … Sie ist schön, aber hilflos wie ein Wald der blühenden Bäume“.
Beim Schreien zuhören und beim Schweigen
Der Abschluss ihrer Überlegungen gibt dennoch Anlass zur Hoffnung, vielleicht auch für sie selbst, die „gebrochene Autorin“ Tanja Maljartschuk. Vielleicht kann die Literatur ja doch etwas bewirken? Ja, sie kann. Sie kann „den Opfern in dunklen Tälern eine Stimme geben, beim Schreien und beim Schweigen zuhören, sie stärker machen, damit die Umbringer, Auslöscher, Verbrecher und Gauner, all jene, die überzeugt sind, mehr Recht zu haben und besser zu sein als anderen, endlich nicht mehr die Oberhand behalten“.
Zum Beweis zitiert sie am Ende noch einmal Ingeborg Bachmann (1926-1973), wie bereits im Rede-Titel „Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf“ (aus Bachmanns Roman „Malina“). Die abschließenden Sätze voll Poesie zeigen, dass Tanja Maljartschuk ja doch an die Wirkmacht von Literatur und an das Weitermachen glaubt: „Damit, wie Ingeborg sagt, ein Tag komme, an dem die Hände der Menschen ‚begabt sein werden für die Liebe und (…) für die Güte‘, ein Tag, der den Menschen verheißt ‚sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter die Wasser gehen, (..), sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sie gemeint haben.“
Ein bewegender, berührender Text. Und eine Inspiration für all jene, die vielleicht hin und wieder von Zweifeln über die Wirksamkeit von gelungenen Reden geplagt werden.