Die Republik Österreich trägt eine immerwährende Verantwortung

Österreichs Bundespräsident Alexander Von der Bellen bei seiner Ansprache zu den Novemberpogromen von 1938. Foto: Peter Lechner/HBF

Auch in Österreich brannten in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 die Synagogen, wurden Menschen gejagt, wurde Terror ausgeübt. In der Millionenstadt Wien, aber auch im Rest des Landes, selbst in den kleinsten Gemeinschaften, sah sich die jüdische Bevölkerung einer gezielten, entfesselten, hemmungslosen Gewalt ausgesetzt. Vor aller Augen, und ohne Erbarmen. Zum 85. Jahrestag der Novemberpogrome wurde – wie schon die Jahre davor – vielerorts daran erinnert. Zum besseren Verständnis: Der 5. Mai gehört ebenfalls zur österreichischen Erinnerungskultur. Im Jahr 1945 wurde an diesem Tag Mauthausen befreit, das größte Konzentrationslager auf österreichischem Boden. Der Österreichische Nationalrat tritt deshalb alljährlich zu einer Sondersitzung zusammen. Es ist dies der nationale „Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“. Erinnert wird alljährlich auch an die Geschehnisse vom 12. März 1938, als die deutsche Wehrmacht einmarschierte. Der „Anschluss“ beendete die österreichische Eigenstaatlichkeit.

Bei allen Veranstaltungen ging es in der Vergangenheit nicht nur um das Erinnern an das grausamste Kapitel in der europäischen Geschichte, sondern auch um den österreichischen Antisemitismus und antisemitische Einstellungen der Gegenwart. In den vergangenen Wochen schockierte ein Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs, in mehreren Städten wurden israelische Flaggen von Gebäuden oder Synagogen heruntergerissen, Autos und Gebäude mit Hakenkreuzen beschmiert, Meldungen über antisemitischen Vorfälle explodieren. Der Grund: der Krieg in Nahost. Der aktuelle Antisemitismus hat viele Gesichter. Daran erinnerte Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen in einer klaren, pointierten und unmissverständlichen Rede am 6. November 2023 bei einer Gedenkveranstaltung in der oberösterreichischen Stadt Wels (knapp 65.000 Einwohner): „Wir dürfen Antisemitismus nicht tolerieren, egal in welcher Gestalt“. Und: „Wer glaubt, die herrschende Toleranz für Intoleranz nützen zu können, muss Konsequenzen tragen. Wie glaubwürdig wir diese Konsequenz leben, entscheidet über die Glaubwürdigkeit unserer Republik“.

Die Ansprache von Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Wortlaut

Sehr geehrte Damen und Herren!

In diesen Tagen jähren sich die Novemberpogrome zum 85 Mal. Nazihorden fielen – von deren Führung wohlorchestriert – am 9. November und in den darauffolgenden Tagen, über jüdische Menschen und deren Geschäfte, Wohnungen und Einrichtungen her. Es wurde geplündert und gebrandschatzt. Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft wurden durch Nazis und deren Mitläufer gejagt, verhaftet, gefoltert und ermordet.

Viele, zu viele haben weggesehen oder sogar zustimmend gejohlt, als die Verbrechen begangen wurden. Es war der vorläufig gewaltigste und gewalttätigste Höhepunkt in dem Versuch, Jüdinnen und Juden aus Europa zu verjagen und zu vernichten.

Nirgendwo gab es Sicherheit

Eine kleine Zahl von Jüdinnen und Juden lebte damals auch hier, in Wels. Wels hatte keine eigene Kultusgemeinde, keine Synagoge und auch keinen jüdischen Friedhof. Daher waren die Welser Jüdinnen und Juden an andere Kultusgemeinden in Oberösterreich angeschlossen.

Der wild gewordene Mob machte auch vor Wels nicht halt. Auch hier wurden Jüdinnen und Juden erniedrigt und gequält, beraubt und viele in den folgenden Jahren auch ermordet. Lassen Sie mich stellvertretend für alle Welser Jüdinnen und Juden an die drei Persönlichkeiten erinnern, deren Schicksal von Yad Vashem dokumentiert werden konnte:

Rakhel Langman, geborene Toi. Sie war eine junge Lehrerin, überlebte die Shoah und starb 1948 nur 31-jährig in Bukarest.

Max Rozenzweig, er lebte hier in der Freiheitsstraße 22 und wurde am 17. Oktober 1941 in Dachau ermordet.

Maria Miriam Wollner, geborene Deutsch, stammte ebenfalls aus Wels und wurde 1944 in der Gaskammer von Auschwitz ermordet.

„Hass hat keinen Platz, Gewalt hat keinen Platz“

Meine Damen und Herren,

die Republik Österreich trägt nun eine immerwährende Verantwortung. Ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten, ihre Institutionen. Ihre Bürgerinnen und Bürger tragen eine immerwährende Verantwortung, angesichts der schrecklichen, barbarischen Taten, die auf unserem Boden an Jüdinnen und Juden verübt wurden. Wir tragen die immerwährende Verantwortung, strikt und entschieden und aus tiefster Überzeugung gegen jede Form von Antisemitismus aufzutreten. Antisemitismus hat hier keinen Platz. Hass hat hier keinen Platz.

Wir dürfen ihn nicht tolerieren, egal in welcher Gestalt. Egal, ob es sich um den alteingesessenen Antisemitismus handelt, der uns – auch aus dunklen Winkeln und stickigen Kellern – unseres Landes immer wieder entgegenschlägt. Mit „alteingesessen“ meine ich einerseits den früheren, aber Jahrhunderte alten Antisemitismus christlicher Provenienz, und andererseits den rassistisch motivierten Antisemitismus jüngeren Datums, der im Grauen der Nazi-Diktatur seinen Kulminationspunkt fand. Oder ob es sich um den islamistisch oder antiisraelisch motivierten Antisemitismus handelt, wie er jetzt mancherorts manifest wird. Äußerungen, die Israel das Existenzrecht absprechen, dürfen nicht toleriert werden. Anschläge auf jüdische Einrichtungen dürfen nicht toleriert werden. Herabwürdigungen der israelischen Flagge dürfen nicht toleriert werden.

„Die Glaubwürdigkeit unserer Republik hängt daran“

Jüdinnen und Juden sind ein Teil Österreichs und müssen sich hier sicher und zuhause fühlen können. Unsere Antwort auf Antisemitismus jeglichen Ursprungs muss hart und klar und unmissverständlich sein. Wer in Österreich lebt, wer in Österreich leben will, kommt nicht nur in den Genuss der Menschenrechte, sondern für ihn und sie gelten auch Menschenpflichten. Es gibt Regeln und an diese muss man sich halten. Und wer glaubt, die herrschende Toleranz für Intoleranz nützen zu können, muss Konsequenzen tragen.

Wie glaubwürdig wir diese Konsequenz leben, entscheidet über die Glaubwürdigkeit unserer Republik. Zu dieser Glaubwürdigkeit gehört auch, klar zu benennen, was ist. Die Hamas ist eine Terrororganisation, deren Ziel die Auslöschung Israels ist und nichts rechtfertigt ihre Taten. Das Pogrom des 7. Oktober 2023 war ein sadistischer, abgrundtief schrecklicher Terrorakt und kann durch nichts relativiert oder gerechtfertigt werden.

Mir wurden Videos gezeigt, die an diesem schrecklichen Tag von den Terroristen angefertigt wurden. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich konnte mir das nicht ansehen. Es war unaussprechlich ekelhaft. Die Hamas ist keine Freiheitsbewegung. Die Hamas will keine Gerechtigkeit, sondern die Auslöschung Israels. Wir wurden über Medien Zeugen von Verbrechen an friedfertigen Menschen, die dem Blutrausch einer Mörderbande zum Opfer fielen. Es waren Menschen jedes Alters, vom Kleinkind bis zum Greis. Die meisten der Opfer waren Jüdinnen und Juden, einige waren Holocaustüberlebende. Etwa 240 Menschen wurden verschleppt und werden nun als Geiseln, als Verhandlungspfand und Schutzschild missbraucht.

Bei Gedenkfeierlichkeiten wie dieser wird oft das „Niemals wieder“ beschworen. Die letzten Tage haben uns gezeigt, dass diese wichtige Losung heute aktueller denn je ist. Wir alle sind gefordert, sie mit Inhalt zu erfüllen. Wir dürfen nicht wegsehen, wenn Jüdinnen und Juden wieder gejagt und bestialisch ermordet werden

Wenn Österreich das „Niemals wieder“ ernst meint, muss es das zeigen. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt.

Vielen Dank.

9. November 2024: Mit einer Kranzniederlegung an der Shoa Namensmauern Gedenkstätte erinnerten Bundespräsident Alexander Van der Bellen, die Bundesregierung und Vertreter der Parlamentsfraktionen am Donnerstag an die Novemberpogrome der Nazis vor 85 Jahren.

 

Elfie Thiemer

https://www.elfi-thiemer.at

Dr. Elfi Thiemer ist Politikwissenschafterin, war vielfach ausgezeichnete Journalistin, bevor sie von 2002 bis 2020 als Ghostwriter in der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei arbeitete. Sie schrieb Reden, Video-Texte, Buchbeiträge, Artikel u.v.a. für die Bundespräsidenten Thomas Klestil, Heinz Fischer und Alexander Van der Bellen. Seit Herbst 2023 unterrichtet sie in Wien „Die Kunst des Redenschreibens“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.