„Wir haben den Krieg nicht gewollt“

Präsident Wolodymyr Selenskyj hat im Krieg eine eigene Kultur der Rede etabliert. Große Beachtung finden seine filmisch inszenierten Videoansprachen. Zum 31. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion am 24. August 2022 sprach er vor zerstörten und erbeuteten russischen Panzern, die im Zentrum Kyjivs demonstrativ zu einer „Schrottparade“ zusammengestellt wurden. Foto: Presidential Office of Ukraine

Als sich Wolodymyr Selenskyj am Vorabend des russischen Überfalls auf die Ukraine in einer Rede an die Bewohner Russlands wandte, erklärte er: „Ihnen sagt man, wir seien Nazis. Wie kann ein Volk den Nazismus unterstützen, das für den Kampf gegen den Nazismus acht Millionen Menschen geopfert hat? Wie könnte ich ein Nazi sein? Erzählen sie das einmal meinem Großvater, der den gesamten Krieg in der sowjetischen Armee gekämpft hat…“ Dieser Großvater Semjon Selenskyj überlebte den Krieg – seine drei Brüder und sein Vater wurden von den Deutschen ermordet, weil sie Juden waren.

Der aus einer russischsprachigen jüdischen Familie in Krywyj Rih in der Ostukraine stammende Präsident der Ukraine wird von Putin als Nazi beschimpft. Von Putin, der nachweislich rechtsradikale Bewegungen in ganz Europa unterstützt. Die Ukraine müsse entnazifiziert werden, weil in Kyjiw ein neonazistisches Regime an der Macht sei. Tatsächlich sind die Rechtsradikalen bei der Wahl 2019 in der Ukraine gerade einmal auf zwei Prozent gekommen – im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten.

„Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, sondern Waffen“

Die Ukraine hat viele überrascht, die wenig über sie wussten, bevor die Russische Föderation am 24. Februar 2022 den vollumfänglichen Aggressionskrieg gegen sie startete. Auch den Präsidenten hatten sie unterschätzt und gern auf seinen Beruf als Schauspieler und Comedian reduziert. Dabei schwang das Vorurteil mit, dieser Beruf sei unseriös. Doch er erfordert vielfältige Fähigkeiten, die Wolodymyr Selenskyj als Präsident im Krieg zu nutzen weiß.

„Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, sondern Waffen“ – mit dieser Antwort an die der Ukraine wohlgesonnenen USA bewies Wolodymyr Selenskyj Schlagfertigkeit und Standhaftigkeit. Die Botschaft war eindeutig: Ich bleibe bei meinem Volk; Angst kann ich mir nicht leisten. Und: Unterstützt uns – mit Waffen, denn wir sind überfallen worden!

Seit dem 24. Februar richtet sich Selenskyj jede Nacht an die Ukrainerinnen und Ukrainer, manchmal auch mehrmals. Er zeigt, dass er an ihrer Seite ist, dass er sich als einer der ihren versteht. Er ist präsent. Er nennt die wichtigsten Entwicklungen des Tages, würdigt die Tapferkeit seiner Landsleute und ermutigt sie. Und er legt Rechenschaft ab: mit wem hat er gesprochen, was hat er erreicht, was hat er vor. Rede ist Führung – das beweist Präsident Wolodymyr Selenskyj im Krieg jede Nacht auf’s Neue.

Selenskyj agiert. Wenn es sein muss, reagiert er auch – und dann schnell: Als am 16. März auf zwei gehackten ukrainischen Fernsehkanälen ein Video auftauchte, in dem ein Avatar des Präsidenten die Ukrainer aufforderte zu kapitulieren, drehte der wirkliche Selenskyj sofort in den Straßen Kyjiws ein Instagramm-Video, in dem er der Lüge widersprach: Die einzigen, die er zur Kapitulation auffordere, seien die Russen.

Immer wieder – gerade auch, als Kyjiw unter Beschuss stand, zeigte sich der Präsident gemeinsam mit seinem Team auf zentralen Plätzen der ukrainischen Hauptstadt. In improvisiert wirkenden Drehs vermittelte er: Wir sind hier, wir arbeiten für euch und mit euch. Allein schaffen wir das nicht, gemeinsam aber wohl. Lasst euch nicht einschüchtern, habt keine Angst!

Alte Grenzen verschwinden, neue Mauern wachsen

Richtet sich der ukrainische Präsident an ausländische Parlamente, so knüpft er nicht nur an nationale Erinnerungsnarrative an, wie immer wieder bemerkt wurde. Er füllt sie auch neu. Verdun in seiner Rede an die französische Nationalversammlung steht gerade nicht für den Stellungskrieg, den wir Deutschen assoziieren, sondern für die völlig zerstörte Stadt – als Gleichnis für Mariupol.

Beifall von der Bundesregierung: Wolodymyr Selenskyj nach seiner auf Video übertragenen Rede im Deutschen Bundestag am 17. März 2022. Foto: picture alliance/dpa / Michael Kappeler

In seiner Rede an den Deutschen Bundestag benutzt Selenskyj das Bild der Mauer, nicht um an deren Fall zu erinnern, sondern weil er eine neue Mauer entstehen sieht in Europa. Eine Mauer zwischen denen, die sein Land rückhaltlos unterstützen und denen, die zaudern. Die deutsche Entscheidung für die Nordstream-Pipeline nennt er Zement und die deutsche Absage an die ukrainische NATO-Mitgliedschaft Steine für diese Mauer; die deutsch-russischen Handelsrouten schließlich bezeichnet er als Stacheldraht auf der Mauer. Vor dem Hintergrund der deutschen Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen in der Ukraine sagte er: „Ich wende mich heute an Sie, damit Sie hinter Ihrer neuen Mauer nicht neue Schuld auf sich laden.“ Klare, harte Worte. Keine Anbiederung, sondern Forderungen.

Der Ton seiner Reden ist jeweils ein anderer –  je nachdem, zu wem er spricht: enttäuscht und daher distanziert zu den Deutschen, warm und freundschaftlich zu den Polen. In seiner Rede an den polnischen Sejm sprach er die Polen als Geschwister an. Er sagte: „Innerhalb nur eines Tages, am ersten Tag des Krieges, wurde es klar für alle Ukrainer und für mich, und ich bin sicher, für alle Polen, dass es keine Grenzen mehr gibt zwischen uns, zwischen unseren Nationen. Keine physischen. Keine historischen. Keine persönlichen.“

Auch die Reaktionen auf die Reden hätten jeweils unterschiedlicher nicht sein können: Während die polnischen Abgeordneten ukrainische Fahnen entrollten, um ihre Verbundenheit mit den Ukrainern zu zeigen, ging das deutsche Parlament nach Selenskyjs Rede schnurstracks zur Tagesordnung über, als gäbe es nichts wichtigeres zu besprechen als Geburtstagsglückwünsche für Bundestagsabgeordnete.

Schaut der Ukraine ins Gesicht!

Am Vorabend des russischen Angriffs wandte sich der ukrainische Präsident an das russische Volk: „Wenn Sie uns angreifen, werden Sie unsere Gesichter sehen. Nicht unsere Rücken, unsere Gesichter.“ Und ergänzte: „Sie verlieren Ihre Nächsten. Sie verlieren sich selbst.“ Genau das passiert seit dem 24. Februar.

Selenskyj betont immer wieder, dass die Ukraine anders sei als Russland – und jeder, der in den letzten zwanzig Jahren beide Länder bereiste, weiß das auch. Er sagt es zu den Ukrainern, um sie zu motivieren, zu den Russen, um gegen die Propaganda anzugehen, der sie ausgesetzt sind, und zu den Westeuropäern – hier vor allem den Deutschen, die nicht begreifen, dass es auch um ihre Freiheit geht. Er sagt es denen, die die Ukraine so anschauen, als sei sie ein kürzlich in unserem Zimmer aufgetauchter Fremder, der mit dem Rücken zum Fenster sitzt. Draußen hinter ihm erstrahlt das vermeintlich vertraute Russland, und sie können das Gesicht des Gastes nur undeutlich erkennen. Macht doch endlich das Licht im Zimmer an, klärt Euch auf über die Ukraine, schaut ihr ins Gesicht! 

Die Videobotschaft Wolodymyr Selenkyjs an die Abgeordneten der Knesset, dem israelischen Parlament, wurde zeitgleich in Tel Aviv öffentlich gezeigt. Foto: picture alliance/epa / Abir Sultan

Welcher Kompromiss?

Vor dem israelischen Parlament, der Knesset, zitierte Selenskyj die in Kyjiw geborene Golda Meir, von 1969 bis 1974 israelische Ministerpräsidentin, die 1967 angesichts des Sechstagekriegs gesagt hatte: „Wir wollen am Leben bleiben. Unsere Nachbarn wollen uns tot sehen. Da bleibt nicht viel Raum für einen Kompromiss.“ Und Selenskyj fügte hinzu: „Vermitteln lässt sich zwischen Staaten. Aber nicht zwischen Gut und Böse.“

Das klingt plakativ. Und doch ist Selenskyjs Beharren auf Freiheit und Recht keine Phrase, sondern die aus bitterer Erfahrung geronnene Erkenntnis, dass ein Nachgeben gegenüber dem Aggressor nicht zu Frieden, sondern zu weiterem Unrecht führt.

Ethische Werte markieren den Unterschied

In der TV-Serie „Diener des Volkes“ sagt der unverhofft zum Präsidenten gewählte Geschichtslehrer Holoborodko zu Ivan dem Schrecklichen: „Wir wollen alles demokratisch lösen.“ und: „Nein danke, wir müssen nicht befreit werden. Wir gehen einen anderen Weg. Wir gehören zu Europa.“

Nichts anderes sagt im realen Leben der zum Präsidenten gewählte ehemalige Schauspieler Selenskyj – so auch in seiner Rede vom 23. Februar an die Russen: „Viele Länder unterstützen die Ukraine. Warum? Weil es nicht um Frieden um jeden Preis geht. Es geht um Frieden und um Prinzipien, um Gerechtigkeit. Um Völkerrecht und um das Recht auf Selbstbestimmung. Das Recht, seine Zukunft selbst zu gestalten.“

In seiner Rede vor der französischen Nationalversammlung am 23. März 2022 schilderte Wolodymyr Selenskyj das ergreifende Schicksal einer schwerverletzten Mutter, die beim Angriff auf Mariupol ihr Kind verloren hatte und die Ärzte darum bat, sie sterben zu lassen. Foto: picture alliance/epa / Yoan Valat

Pathos ohne Floskeln

Selenskyjs Reden würden – wie gute Reden überhaupt – ohne Pathos nicht funktionieren. Aber dieses Pathos ist immer konkret. Weil das Menschliche konkret ist. Die Wahrheit ist konkret. Das Leben und der Tod. Wer Selenskyjs Rede vor der französischen Nationalversammlung gehört hat, wird nicht mehr vergessen, was er über die Frau sagte, die ukrainische Helfer schwerverletzt aus der Mariupoler Geburtsklinik bargen: „Sie hatte ein zerschmettertes Becken. Ihr Kind starb noch vor der Geburt. Die Ärzte versuchten, die Frau zu retten. Kämpften um ihr Leben! Doch sie bat die Ärzte um ihren Tod. Sie bat, sie sterben zu lassen, ihr nicht zu helfen. Weil sie nicht wusste, wozu sie leben sollte. Die Ärzte kämpften. Die Frau starb. In der Ukraine. In Europa. Im Jahr 2022. Als Hunderte von Millionen Menschen nicht einmal denken konnten, dass so etwas geschehen könnte, dass die Welt so zerstört werden könnte.“ In der Rede kommt er noch zweimal auf die Frau zurück. Er verdeutlicht damit, dass jeder Mensch, jedes Leben zählt. Er spricht über die Notwendigkeit einer neuen Sicherheitsarchitektur mit entsprechenden Garantien: „Damit niemand jemals wieder um seinen Tod bitten wird!“

Mit Logos überzeugen – und mit Mut

„Wir haben diesen Krieg nie gewollt. Aber er wurde zu uns gebracht“, sagte Selenskyj am 7. März den ukrainischen Bürgern. „Wir haben nicht vom Töten geträumt. Aber jetzt müssen wir den Feind aus unserem Land und aus unserem Leben vertreiben.“

Die Botschaft, hinter der Selenskyj alle Europäer wie die Ukrainer versammeln will, ist von Beginn an klar: Für das Leben, gegen den Tod – für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit, gegen Terror, Diktatur und Willkür. Die Ukrainer ermutigt er, zusammenzustehen, einander zu helfen und gegen den Aggressor zu kämpfen; im Ausland wirbt er um Unterstützung – Waffen für die Ukraine, Sanktionen gegen Russland. Alle seine Reden sind Variationen auf dieses Thema, vereint als Europäer den ungerechten Krieg mit einem gerechten Frieden zu beenden.

Selenskyj ist präsent wie am ersten Tag des vollumfänglichen Krieges. Er weicht nicht, obwohl er Zielperson Nummer eins der russischen Aggressoren ist. Mit seinem Beispiel überzeugt er die Ukrainer möglicherweise noch mehr als mit seinen Reden. Aber in seinen Reden ist das Beispiel, das er gibt, für sie sichtbar, jede Nacht und jeden Tag.

Die Redenwerkstatt des Präsidenten

Immer wieder wird gefragt, wer eigentlich Selenskyjs Reden schreibe. Laut Guardian ist es der 38-jährige Journalist und frühere Politik-Analyst Dmytro Lytvyn. In einem Interview erklärte er: “Der Präsident weiß immer, was er sagen will und wie er es sagen will.“ Wichtigste Essenzen der Reden seien Emotionen und die Logik der Argumente. Der Politikwissenschaftler Ihor Todorov von der Universität Uzhhorod ergänzt, dass Selesnkyjs Ehefrau Olena viel mit dem leidenschaftlichen Ton der Reden zu tun habe. Außerdem seien weitere Mitarbeiter mit den Reden befasst, unter ihnen auch einer der Texter der Fernsehserie „Diener des Volkes“, Yuri Kostyuk. Großartig die Szene in der dritten Folge der ersten Staffel, in der der neue Präsident (gespielt von Selenskyj) übt, Reden zu halten.

Zu Wolodymyr Selenskyjs Redenberatern gehört seine Ehefrau Olena, die auch selbst als Rednerin auftritt. Hier verfolgt er ihre live nach Kyjiv übertragene Rede, die sie im Rahmen einer Reise in die USA am 20. Juli 2022 vor dem US Kongress hielt. Foto: Presidential Office of Ukraine

Als wirklicher Präsident brauchte Wolodymyr Selenskyj nicht zu üben. Er weiß aufzutreten, ist mit der Kamera und sozialen Medien vertraut und bedient sich ihrer souverän. Die Inhalte sind immer auf das jeweilige Publikum abgestimmt (auch wenn nicht alles immer gut ankommt). Der Redner beherrscht Tonlage und Timing. Er motiviert und schafft Identifikation, indem er deutlich mehr positive Wörter verwendet als negativ besetzte. Das Gesagte bleibt in Erinnerung, weil es mit Metaphern transportiert wird.
Mit seinen täglichen Videoansprachen an die Ukrainerinnen und Ukrainer, mit seinen viel beachteten Reden an ausländische Parlamente und internationale Gipfeltreffen prägt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine ganz eigene Kultur der Rede im Krieg: Präsenter als je ein Staatsoberhaupt, ringt er mit Worten um Unterstützung von außen und Ermutigung nach innen.

Rhetoriklehrer benutzen die Reden Selenskyjs schon jetzt als Unterrichtsmaterial. Und ich bin überzeugt, dass Historiker sie als eine wichtige Quelle zum Widerstand der Ukraine gegen die Aggression Russlands nutzen werden.

 

Die Verlage Droemer und Ullstein haben Bücher mit gesammelten Reden von Wolodymyr Selenskyj herausgegeben, die Verkaufserlöse kommen der Ukraine zugute: Reden gegen den Krieg und Für die Ukraine – Für die Freiheit. Außerdem sind zwei lesenswerte Selenskyj-Biografien erschienen, verfasst von den Journalisten Wojciech Rogancin (Polska Times) und Sergii Rudenko (Espreso.tv).

 

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