Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?

Monika Schwarz-Friesel sprach bei der Gedenkveranstaltung im österreichischen Parlament. Foto: Parlamentsdirektion/Johannes Zinner

Die Spitzen der österreichischen Politik versammelten sich am 3. Mai 2024 zum traditionellen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im historischen Sitzungssaal des Parlaments in Wien. Als Hauptrednerin war die renommierte Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel eingeladen, die in ihrer Rede auch klare Worte zu den Reaktionen in der westlichen Welt auf das von der Hamas am 7. Oktober 2023 verübte Massaker in Israel fand. Sie beklagte, dass es statt eines internationalen Aufschreis zum Teil ein „ohrenbetäubendes Schweigen“ zu den Massenvergewaltigungen und grausamen Ermordungen gegeben habe. Gleichzeitig würde der Nahost‑Konflikt als Vorwand für Attacken gegen Juden überall in der Welt genommen. „Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel? (Nelly Sachs, 1961) – Eruptionen der alten Judenfeindschaft und die Israelisierung des Antisemitismus,“ so der Titel ihrer Rede, die wir hier im Wortlaut dokumentieren.

 

In einem Gedicht fragte Nelly Sachs 1961 „Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“ – Zwar existierte damals der Staat schon, doch Nelly Sachs bezog sich mit dem Wort Israel zeitlebens allgemein auf die jüdische Existenz. Und so führt die Frage genau in die Mitte meines Vortrags. Denn Judenhass und Israelhass bilden eine untrennbare Symbiose.

Ich war gebeten worden, über den Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 zu sprechen. Seit 20 Jahren forsche ich zum Thema Judenfeindschaft und bin mit den Abgründen und Manifestationen dieses kulturellen Hasses vertraut. Und dennoch ist es mir noch nie so schwergefallen, einen Vortrag hierzu zu formulieren. Dies nicht nur aufgrund der Bestialität des Massakers, sondern auch, weil die Reaktionen auf diese Monstrosität selbst monströs waren und sind. Weil uns drastisch vor Augen geführt wird, dass Teile der Menschheit nichts aus der Geschichte gelernt haben. Der 7. Oktober zeigte die Quintessenz von Judenhass, seine ultima ratio, den unbedingten Willen, die jüdische Existenz auszulöschen. Hier begegnen wir nicht der Banalität des Bösen, sondern dem antisemitischen Bösen per se in seiner grauenerregendsten Eigenschaft. So wie die Nationalsozialisten glaubten, Juden müssten als Weltenübel zum Wohle der Menschheit ausgerottet werden. Am 7.10. zelebrierte und sakralisierte man diesen eliminatorischen Antisemitismus.

Mutter, dein Sohn hat heute zehn Juden getötet! Ich rufe dich vom Telefon eines toten Juden an. Sag’s Vater! Ihr Blut ist an meinen Händen. Mutter, dein Sohn ist ein Held!

 

Eine Szene verdeutlicht dies: Ein mitgeschnittenes Handygespräch, bei dem man die Stolz-erregte Stimme eines jungen Palästinensers hört. „Mutter, dein Sohn hat heute zehn Juden getötet! Ich rufe dich vom Telefon eines toten Juden an. Sag’s Vater! Ihr Blut ist an meinen Händen. Mutter, dein Sohn ist ein Held!“ Der Vater ruft freudig: „Töte! Töte! Töte! Töte!“  Entsprechend mahnte der Holocaustüberlebende und Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz: „Und der Antisemit unserer Zeit will nicht mehr seine Abneigung gegenüber Juden ausdrücken, er will Auschwitz“.

Am 7. Oktober 2023 wurden über 1200 Menschen jeden Alters gefoltert, verstümmelt, verbrannt. Mit Jubelgeschrei. Nur durch die explizite Nennung dieser Gräueltaten ist das Ausmaß des moralischen Versagens weiter Teile der Weltbevölkerung zu verstehen. Es hätte einen internationalen Aufschrei geben müssen. Doch stattdessen kam das ohrenbetäubende Schweigen von denen, die sonst lautstark als erste sich empören. Es schwiegen die Feministinnen zu den Massenvergewaltigungen, es schwiegen die progressiven Akademien und Kunstszenen zu den grausamen Ermordungen junger Menschen, es schwiegen die Friedensaktivisten und Anti-Rassisten zu den Bestialitäten. 

Verhöhnung der Opfer

Die politisch korrekten Moralisten, die sonst bei jeder Minderheitendiskriminierung aufschreien, sie verhöhnten die Opfer und deren Familien durch judenfeindliche Täter-Opfer-Umkehrungen,  auch – und besonders virulent – an Universitäten (wie wir es gerade in den USA sehen). Die Ja-aber-Rhetorik des pseudo-intellektuellen und politischen Diskurses (bis hinauf zur UN-Ebene) reproduzierte unter dem Schlagwort „Kontextualisierung“ das alte antisemitische Argument, die Juden seien selbst schuld an ihrem Unglück. Verstand, Anstand und Mitgefühl wurden zugunsten ideologischer Verblendung, zugunsten eines anti-israelischen Narrativs aufgegeben.

Und nicht nur in Israel, sondern in den jüdischen Gemeinden weltweit kam mit Wucht die Re-Traumatisierung und mit ihr die bittere Erkenntnis, wie einsam man im 21. Jahrhundert trotz aller Beteuerungen des floskelhaften „Nie wieder“ blieb. In den Sozialen Medien gab es einen Post in Anlehnung an das berühmte Zitat von Niemöller, der die Fassungslosigkeit insbesondere junger progressiver Juden widerspiegelt, den ich hier (in Übersetzung) verlesen möchte: „Sie attackierten Lesben und Schwule, und ich stand dagegen auf, sie attackierten die schwarze Gemeinschaft, und ich stand dagegen auf, sie attackierten die Migranten und ich stand dagegen auf. Dann attackierten sie mich, aber ich stand allein, weil ich jüdisch bin.“ Überraschend kamen Empathie-Verweigerung und Hass-Eruptionen nicht.

Israel als Feind- und Zerrbild

Der Boden dafür war seit Jahren längst gelegt, und Ähnliches erlebten wir schon anlässlich der Gaza-Krise 2014, als auf den Straßen Europas „Hamas, Juden ins Gas“ gegrölt wurde und im Internet verbale Gewaltexzesse stattfanden. Wir warnen in der empirischen Forschung seit langem – immer wieder öffentlich – vor einem Antisemitismus, der im medialen Diskurs ein Feind- und Zerrbild des jüdischen Staates etabliert. Das Fazit unserer Konferenz Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte (Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz/ Monika Schwarz-Friesel) lautete „Der israelbezogene Antisemitismus ist heute die frequenteste Form der aktuellen Judenfeindschaft, doch ausgerechnet dieser wird in Politik und Zivilgesellschaft der wenigste Widerstand entgegengesetzt. Hier liegt die Gefahr der Ausweitung und Habitualisierung von Antisemitismus in der … Mehrheitsgesellschaft.“  – Das war vor 15 Jahren!

Aktuell konstatiere ich vier politisch-ideologische Formen der Judenfeindschaft: linken, rechten, muslimischen – und einen mittig-gebildeten Feuilleton-Antisemitismus. Trotz aller ideologischen Divergenzen weisen alle vier Synergien, auf, bilden zum Teil Allianzen, so seit längerem schon linksextreme und   islamistische Bewegungen. Alle treffen sich in der Dämonisierung Israels.
Dabei legt – seit jeher – der gebildete und moralisch integer auftretende Antisemitismus mit seiner polierten Rhetorik, der als „Sorge um den Weltfrieden“ daherkommt, die geistige Brandstiftung, denn er setzt die Ideen in die Köpfe – die Radikalen, Extremisten, Ignoranten, die indoktrinierten Studierenden, sie fungieren dann als Brandbeschleuniger. 

Nach dem Pogrom deutete die bekannte amerikanische Gender-Ikone Judith Butler das Massaker als „Aufstand“, als „bewaffneten Widerstand“, sie sah keinen Terrorakt und keinen Antisemitismus, und die Hamas hatte sie einst als „linke soziale Bewegung“ bezeichnet. Inwiefern das Köpfen und Verbrennen von Säuglingen Widerstand sei, erklärt sie nicht. Stattdessen bringt auch sie durch ihre Prominenz das alte anti-jüdische Kausal-Argument in das kollektive Bewusstsein: Wenn Juden Gewalt zugefügt wird, liege dies am Verhalten der Juden.

Gebildete Antisemiten

Niemanden sollte es wundern, Antisemitismen bei hoch gebildeten Menschen zu sehen. Man denke an die judenfeindlichen Äußerungen von Augustinus, Luther, Voltaire, Fichte oder Hegel, In den Bildungsromanen der liberal-progressiven Autoren Dickens, Wilde, Dostojewski finden sich die Topoi des bösen, schmutzigen, gierigen Juden fest verankert. Ihre Schriften träufelten das Gift in das Bewusstsein von Millionen Lesern. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war der Anteil gebildeter Antisemiten höher als der ungebildeter. Denn das judenfeindliche Ressentiment ist kein Vorurteil, nicht bloß Rassismus, sondern ein kollektiver Denk- und Gefühlshabitus, und leider ist Bildung kein absoluter Garant dagegen. Jahrhundertelang glaubten Antisemiten, der kollektive böse Jude schlachte Kinder und paktiere mit Satan, heute glauben sie in direkter Anlehnung an dieses Zerrbild, der jüdische Staat sei ein rassistisches Apartheidsregime, das Kinder ermorde. 

Gebildete und progressiv auftretende Personen mit Doktor- und Professoren-Titel sind so gefährlich, weil die Menschen ihnen ohne Verdachtsmoment zuhören, weil sie den moralischen Anspruch nach außen tragen, die Guten zu sein. Deshalb erhalten ihre Texte und ihre zahlreichen Unterschriftenlisten so viel Gewicht in der Öffentlichkeit. Der woke Manichäismus pflegt mit großer Toleranz gegenüber dem jüdischen Staat die Intoleranz.

Publiziert werden dabei von den Medien selbst die krudesten Ideen, zum Beispiel seit einigen Jahren Aussagen des postkolonialen Ansatzes, der die Shoah relativiert und Israel delegitimiert. Diese geschichtsverfälschende Schablone liefert längst nicht nur israelfeindliche, sondern auch kollektiv gegen alle Juden gerichtete Diskreditierungen, wenn zum Beispiel Anne Frank posthum als „weißes Kolonial-Mädchen“ bezeichnet und ihr Tagebuch verbrannt wird. Das saliente Symbol für das jüdische Leben und Überleben in der Welt ist Israel und daher der Stachel im Geist aller modernen Antisemiten. 

Israelbezogener Antisemitismus ist weder ein neuer noch ein politischer Empörungsantisemitismus, und er liegt auch nicht im Nahostkonflikt begründet. Er hat keine andere Kausalitätsstruktur als den Antijudaismus, wobei der Konflikt als Katalysator fungiert. Zu betonen ist daher ausdrücklich, dass Israel-Hass – als Weltanschauung – kontinuierlich auch ohne Krisen, Kriege und Siedlungsbauten artikuliert wurde und wird.

Die Israelisierung des Antisemitismus

Wer glaubt, Israelhass sei gespeist von der aktuellen Konfliktsituation, lese die Hassbotschaften, die Asher Ben Nathan, der erste Botschafter Israels in Deutschland, bereits erhielt. Seit seiner Gründung wird der jüdische Staat gehasst, weil er existiert, nicht, weil er etwas tut oder nicht tut. Was ich „Israelisierung des Antisemitismus“ nenne, zeichnet sich dadurch aus, dass klassische Stereotype (wie Kindermörder, Landräuber, Völkerzerstörer) zeitgemäß angepasst auf Israel projiziert werden, und dass Juden überall auf der Welt kollektiv unter dem Vorwand des Konfliktes attackiert werden. Wir sehen hierbei in der Forschung alle Merkmale des klassischen Judenhasses.

Antisemitische Konzepte ziehen sich auch durch die massiv zugenommenen Abwehr- und Leugnungsprozesse: Das viel beschworene Kritiktabu ist eine krude Kopfgeburt, denn kein Land der Erde wird so heftig und so oft kritisiert wie Israel; legitime Kritik und Antisemitismus werden selbstverständlich nicht gleichgesetzt, und aufgrund klarer Kriterien gibt es für uns auch keine Grauzonen bei der Abgrenzung. Alle diese Phantasmen werden produziert, um sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu immunisieren. Auch dies ist nichts Neues: Wilhelm Marr, Verfasser der einflussreichsten antisemitischen Hetzschrift im 19. Jahrhundert, beteuerte, sich nicht vom Judenhass leiten zu lassen, aber er müsse doch „wahrheitsgemäß aufdecken, wie schädlich Juden agierten“.

Wir stoßen hier auf Deutungskämpfe, die – so einst Franz Kafka – “Die Lüge zur Weltordnung“ – machen wollen. Die Weltlüge über das jüdische Israel ist schon weit und breit etabliert. Sie wird zu oft von zu vielen geglaubt. Und sie hat furchterregende Konsequenzen. Wir alle stehen vor der Herausforderung, diesem Lügengeflecht Fakten entgegenzusetzen.

Nelly Sachs schrieb:
„Land Israel,
nun wo dein Volk
aus den Weltenecken
Verweint
heimkommt“

Und sie rief:  „Völker der Erde, (zer)schneidet nicht mit den Messern des Hasses!“

 

Die Rede wurde vom ÖRF übertragen und ist hier auf YouTube zu sehen. Sie stieß auch außerhalb des deutschen Sprachraums auf großes Interesse und wurde ins Englische, Italienische und Hebräische übersetzt.

 

Antisemitische Sprachgebrauchsmuster sind tief in unser kommunikatives Gedächtnis eingeschrieben. In ihrem neuesten Buch analysiert Monika Schwarz-Friesel, wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit zweitausend Jahren unsere Kommunikation prägen.

 

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Prof. Dr. Dr.h.c. Monika Schwarz-Friesel

Prof. Dr. Dr.hc Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin und Professorin für Linguistik an der Technischen Universität Berlin.

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