Am 16. Januar 1996 sprach Ezer Weizman als erster israelischer Präsident im Deutschen Bundestag. Erstmals erklang in einem deutschen Parlament die hebräische Sprache – aus dem Munde des höchsten Repräsentanten des jüdischen Staates und eines Volkes, das noch sechs Jahrzehnte zuvor der Vernichtung durch Deutsche ausgesetzt war. Seine Rede war geschichtsträchtig, rhetorisch brillant und voller poetischer Kraft.
Ezer Weizman war der erste Staatspräsident überhaupt, der nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Plenarsaal des Bundestags sprach, damals noch in der Bundeshauptstadt Bonn. Seine Rede war der Höhepunkt eines viertägigen Staatsbesuchs, der 50 Jahre nach Kriegsende und 30 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel den Staatspräsidenten und seine Frau durch das wiedervereinigte Deutschland führte. Der Besuch war ein weiterer Meilenstein in den deutsch-israelischen Beziehungen, die von Konrad Adenauer und David Ben-Gurion mutig eingeleitet worden waren und im Lauf der Zeit immer intensiver und freundschaftlicher wurden.
Gast in einem anderen Deutschland
Der Auftritt von Ezer Weizman im Bundestag des wiedervereinigten Deutschlands – auch Bundespräsident Roman Herzog und Bundeskanzler Helmut Kohl waren anwesend – war mit Freude und Spannung erwartet worden. „Es war ein schwieriger Weg, der Ihr und unser Land zueinander führte,“ sagte Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth in ihrer Begrüßungsansprache und erklärte: „Sie besuchen ein anderes, ein demokratisches, ein auf Europa ausgerichtetes Deutschland, das Konsequenzen aus Hass und Völkermord, Krieg und Vertreibung gezogen hat und sich seiner Verantwortung bewusst ist.“
Erwartungen übertroffen
Welche historische Bedeutung die anschließende Rede an diesem 16. Januar 1996 hatte, war der versammelten politischen Elite des Landes bewusst. Und Ezer Weizman übertraf die Erwartungen. Er verstand es, die Zuhörer von Anfang an in Bann zu versetzen. Er umriss die gesamte Geschichte Israels und das so wechselvolle Schicksal der Juden auf dem Gebiete Deutschlands, er beleuchtete, welche uralten Implikationen einen Frieden im Nahen Osten so schwer machen und er zeigte auf, wie das heutige Israel aufgebaut wurde und welche herausragende Rolle dabei die Wiedereinführung des Hebräischen als Alltagssprache spielte.
Biblisch anmutende Sätze
Nur wenige Anwesende dürften seine Rede im Original auf Hebräisch verstanden haben, doch auch die Simultanübersetzung ließ aufhorchen. Seine Worte waren von einer für eine Politikerrede ungewohnten Poesie geprägt. In mit Anaphern gebildeten, biblisch anmutenden Sätzen kam ein tiefes Geschichtsbewusstsein zum Ausdruck: „Erst 200 Generationen sind vergangen, seit ein Mensch namens Abraham aufstand, sein Land und seine Heimat zu verlassen und in ein Land zu ziehen, das heute mein Land ist. Erst 200 Generationen sind vergangen, als Abraham die Mahpelah-Höhle in der Stadt Hebron kaufte, bis zu den schweren Konflikten, die sich dort in meiner Generation abspielten. Erst 150 Generationen sind seit der Feuersäule des Auszugs aus Ägypten bis zu den Rauchsäulen der Shoah vergangen. Und ich, Nachkomme Abrahams im Lande Abrahams, war überall mit dabei,“ spann er den Bogen der Jahrtausende alten Geschichte Israels bis heute, die seine eigene und die Identität seines Volkes bestimmt. In gleicher Weise sprach er über die Last, die trotz des Neuanfangs und der Versöhnung auf den deutsch-israelischen Beziehungen liegt. „Nicht leicht fiel es mir, das Konzentrationslager Sachsenhausen zu besuchen. Nicht leicht ist es für mich, in diesem Land zu sein, die Erinnerungen und Stimmen zu hören, die von der Erde zu mir schreien.“
Erinnerung und Gedenken
Ezer Weizman erinnerte daran, dass Deutschland „bis zur Zerstörung durch die Nationalsozialisten die größte und älteste jüdische Gemeinde in Europa war“. Er zählte berühmte Namen auf, die in dieser Zeit auftraten – Moses Mendelssohn, Raschi, Heinrich Heine, Walter Rathenau, Albert Einstein, Martin Buber, Franz Rosenzweig – und gedachte der Ermordeten, deren Namen unbekannt geblieben sind: „Wie viele Bücher, die niemals geschrieben wurden, sind mit ihnen gestorben? Wie viele Symphonien, die niemals komponiert wurden, sind in ihren Kehlen erstickt? Wie viele wissenschaftliche Entdeckungen konnten nicht in ihren Köpfen heranreifen?“
Das Wunder Hebräisch
Schließlich machte Ezer Weizman die Sprache, in der er seine Rede vortrug, selbst zum Thema – das Ivrit, die hebräische Sprache, die nach 2000 Jahren Exil mit der Staatsgründung Israels als Amtssprache eingeführt worden war und seither im Alltag gesprochen wird. „Die Sprache, die nur im Gebet geflüstert, nur in Synagogen gelesen und nur in religiösen Texten gesungen wurde, die Sprache, die in den Gaskammern, im Gebet „Shema Yisrael“ geschrieen wurde, sie ist zu neuem Leben erwacht,“ sagte der Staatspräsident stolz und ehrfürchtig. „Kann es ein größeres Wunder geben? Denn wären der Prophet Jesaja, König Salomo und Jesus von Nazareth hier unter uns, dann verstünden sie meine Worte, ebenso wie ich, meine Tochter und mein Enkel ihre uralten Worte verstehen, die vor Jahrtausenden gesprochen, geschrieben und über die Zeitläufte hinweg aufbewahrt worden sind.“ Das Judentum definiert sich oft als Volk des Buches. Auch das zeigte sich zum Abschluss der Rede in poetischen Formulierungen. Ezer Weizman: „Wir sind ein Volk der Worte und der Hoffnung. Wir haben keine Reiche geschaffen, keine Schlösser und Paläste gebaut. Nur Worte haben wir aneinandergefügt. Wir haben Schichten von Ideen aufeinandergelegt, Häuser der Erinnerungen errichtet und Türme der Sehnsucht geträumt.“
Maßstab für große Reden
Ezer Weizman hielt vor 25 Jahren eine große, denkwürdige Rede, für die sich die versammelten Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates mit stehenden Ovationen bedankten. Sie begründete eine Tradition weiterer großer Reden von führenden Politikern beider Länder: Johannes Rau und Angela Merkel sprachen in der Knesset, Shimon Peres und Reuven Rivlin im Bundestag, stets begleitet von breiter öffentlicher Aufmerksamkeit und mit langem Nachhall. Ezer Weizman, der 2005 verstarb, war es gelungen, für diese späteren Reden Maßstäbe zu setzen. Gefreut hätte sich der ehemalige Jagdflieger wohl auch über ein anderes historisches Ereignis im zwischenstaatlichen Verhältnis. Als Zeichen der gewachsenen Freundschaft überflogen im Sommer 2020 mehrere deutsche und israelische Kampfjets erstmals Seite an Seite die KZ-Gedenkstätte Dachau. An Bord eines der Flugzeuge waren auch die miteinander befreundeten Chefs der deutschen und israelischen Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz und Generalmajor Amikam Norkin. Letzterer setzte dabei einen kurzen Funkspruch ab – für eine Rede war keine Zeit –, der ganz nach Ezer Weizman klang: “Flying together above the valley of darkness making room for only light ahead. As we vow: never again!”
Vom Jagdflieger zum Präsidenten
Ezer Weizman, geboren 1924 in Tel Aviv, war ein Neffe des ersten israelischen Präsidenten Chaim Weizman und in Israel sehr beliebt, ja ein Held. Als junger Mann trat er 1942 der britischen Armee bei, wo er zum Jagdflieger ausgebildet wurde. Berühmtheit erlangte er als Pilot im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948. Später wurde er Kommandeur der Luftwaffe und stellvertretender Generalstabschef der israelischen Armeee. Im Sechstagekrieg 1967 trug er entscheidend zum Sieg Israels bei. Auf die militärische folgte eine politische Karriere, die ihn vom Verkehrs- und Verteidigungsministerium bis ins höchste Staatsamt führte. Als Politiker war Ezer Weizman einer der Architekten des Friedens mit Ägypten und Jordanien. Auch für einen Ausgleich mit den Palästinensern engagierte er sich.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Rede und welche Rolle sie in der politischen Berichterstattung spielte. Stimmung und Bedeutung werden bei dieser Analyse wieder lebendig!