Auch wenn uns zweieinhalb Millionen Jahre von unseren steinzeitlichen Vorfahren trennen, unser Gehirn hat sich nicht wesentlich verändert. Es tickt noch immer steinzeitlich. Das erklärt, warum Geschichten bis heute nichts von ihrem Reiz verloren haben. Im Gegenteil: Was sich unsere Vorfahren am Lagerfeuer erzählt haben, wird in Kommunikation und Marketing seit einiger Zeit als Storytelling wiederentdeckt. Der Grund für die Siegestour von Geschichten liegt in ihrer emotionalen Wirkung. Anders als Zahlen, Daten und Fakten berühren und bewegen sie uns. Sie erreichen uns damit eher als andere Informationen und werden auch besser im Gedächtnis behalten.
Geschichten sind wirkmächtiger als Zahlen, Daten und Fakten
Wie verschieden die Wirkung von Zahlen und Geschichten ist, zeigt dieser TED-Talk von Sheryl Sandberg. Zu Beginn ihrer Rede zitiert sie zahlreiche Statistiken. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Sie belegen den Mangel an Frauen in Führungspositionen. Aber es ist schwer, sie zu behalten. Besonders weil es viele sind und sie nur mündlich transportiert werden. Auch bewegen Statistiken allein niemanden zum Handeln. Doch Sandberg belässt es nicht bei Zahlen. Sie erzählt eine Anekdote, ein Erlebnis, das sie in den New Yorker Büros einer Private Equity Gesellschaft hatte.
Vor einigen Jahren war ich […] bei einer dieser schicken New Yorker Private-Equity-Firmen, Ihr könnt euch das vorstellen. Und ich bin also in der Besprechung, die ungefähr 3 Stunden dauert und nach 2 Stunden fällt die biologisch bedingte Pause an und alle stehen auf, und der Partner, der die Besprechung leitet, sieht auf einmal sehr verlegen aus. Und es wurde mir klar, dass er nicht wusste wo in seiner Firma die Damentoilette war. Ich schaute mich also nach Umzugskisten um, denn ich dachte, dass sie gerade erst eingezogen waren, aber ich sah keine. Also sagte ich: „Sind Sie gerade erst in dieses Büro eingezogen?“ Und er sagte: „Nein, wir sind hier schon seit ungefähr einem Jahr.“ Und ich sagte: „Heißt das etwa, dass ich die einzige Frau bin, die innerhalb eines Jahres in diesem Büro einen Deal verhandelt hat?“ Und er schaut mich an und sagt: „Ja. Oder vielleicht sind Sie auch nur die Einzige, die zur Toilette musste.
Und zum ersten Mal lacht das Publikum – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie Sandberg bereitwillig ihre Aufmerksamkeit und möglicherweise auch Sympathie entgegenbringen. Zudem bleibt die Geschichte hängen und verankert so die Kernbotschaft in den Köpfen der Zuhörerinnen und Zuhörer, während die Zahlen ziemlich schnell verblassen.
Geschichten waren in HV-Reden bislang Mangelware
Gute Reden erzählen Geschichten. Die großen Redner wissen das. Schon Jesus sprach in Gleichnissen, um Inhalte des christlichen Glaubens zu vermitteln. Obama machte in seinen Reden häufig von Geschichten Gebrauch. Und bei den beliebten TED-Talks ist Storytelling gelebte Praxis. Selbst in Unternehmensreden haben Geschichten inzwischen Einzug erhalten. Doch in Hauptversammlungsreden? Fehlanzeige!
Die einzige mir bekannte Ausnahme ist die Hauptversammlungsrede von Daimler im Jahr 2015, als der damalige CEO Dieter Zetsche in Redeminute 35 in die Innentasche seines Jacketts griff, einen Kundenbrief herausholte und ihn vorlas. Darin lobt der Kunde die hohe Sicherheit seines Mercedes, die ihn und seine Frau weitgehend unversehrt einen schweren Unfall überstehen ließ. Eine kurze Story, die aber bisher die Ausnahme blieb. Vermutlich weil Hauptversammlungsreden mehr Rechenschaftsbericht als Rede waren. Und in einen Bericht – das lernt man schon in der Schule – gehören vor allem Zahlen, Daten und Fakten und keine Geschichten. Die Zeche zahlen die Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich langweilen. Und letztlich auch der CEO, der die Chance verpasst, seine Stakeholder wirklich zu erreichen und zu bewegen.
Neuer Siemens-Chef entpuppt sich als versierter Geschichtenerzähler
Doch allem Anschein nach läutet die aktuelle Hauptversammlungssaison eine neue Zeit ein. Gleich mehrere Unternehmen machen in ihren HV-Reden von Storytelling Gebrauch. Besonders ausgiebig und überzeugend tut dies Roland Busch von Siemens. Seine Rede enthält nicht nur den obligatorischen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Busch stellt gleich fünf von ihnen vor – verpackt in kurze Geschichten, die wesentliche Meilensteine des zurückliegenden Geschäftsjahres und Karrierechancen bei Siemens anschaulich und überzeugend transportieren.
Einer dieser Mitarbeiter ist Andreas Möller, der während der Corona-Pandemie zusammen mit seinem Team für den Siemens-Kunden BioNTech ein Werk in Marburg in Rekordzeit umgerüstet hat, so dass dort dringend benötigte Impfstoffe produziert werden konnten. Natürlich hätte Busch die Umrüstung der Produktionsstätte auch einfach so nennen können. Als Geschichte verpackt und mit dem Gesicht und Namen eines Mitarbeiters versehen, entfaltet der Nachweis von Siemens‘ Leistung aber eine viel größere Wirkung. Er gelangt leichter in die Köpfe der Zuhörerinnen und Zuhörer – und bleibt dort auch länger: Während ich drei Monate nach der Siemens-HV alle übrigen Redeinhalte vergessen habe, kann ich mich an die fünf Mitarbeitergeschichten immer noch erinnern.
Das Storytelling leistet im Fall Siemens aber noch ein weiteres: Mit den Geschichten bereitet Busch seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Bühne und transportiert glaubwürdig, dass er als CEO eine Teamleistung präsentiert. Nicht allein seine Leistung macht Siemens zu einem erfolgreichen Unternehmen, sondern die Leistung aller Siemens-Kolleginnen und Kollegen. Insgesamt ist die Hauptversammlungsrede von Siemens also ein gutes Beispiel für die Macht von Geschichten. Und sie zeigt, wie Hauptversammlungsreden gewinnen, wenn sie sich vom reinen Berichtscharakter verabschieden und mittels Storytelling echte Rede wagen.
Eine Geschichte mit Happy End?
Ob es für Roland Busch damit für einen der vorderen Plätze des VRdS-Rankings der besten Hauptversammlungsredner 2022 reicht, wird sich zeigen, sobald die diesjährige Hauptversammlungssaison abgeschlossen ist und das Redenanalyse-Team des VRdS seine Bewertung vorgenommen hat. Mit hoher Wahrscheinlich wird Roland Busch aber zumindest als der führende Storyteller im DAX40 in diese Berichtssaison eingehen.