„Seid Menschen!“ – Die Gedenkrede der hundertjährigen Margot Friedländer im Europäischen Parlament

Internationaler Holocaust-Gedenktag im EU-Parlament: Margot Friedländer erzählt ihre Lebensgeschichte, über die sie schon Hunderte Male vor Schulklassen, in Universitäten, in Radio und Fernsehen berichtet hat. In Deutschland ist sie das Gesicht und die Stimme der letzten Holocaust-Überlebenden. Sie hat für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz und zahlreiche Preise bekommen. Foto: Alain Rolland / European Union 2022

Margot Friedländer ist wahrscheinlich der älteste Mensch, der je im Europäischen Parlament eine Rede gehalten hat. Die Hundertjährige war eingeladen, um anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags am 27. Januar 2022 als Zeitzeugin ihre Geschichte zu erzählen, die Geschichte ihres Überlebens im Berliner Untergrund und im Konzentrationslager Theresienstadt. In unprätentiöser Sprache und mit ruhiger, sanfter Stimme berichtet sie von den Ungeheuerlichkeiten und Grausamkeiten, die sie als junge Frau unter der Naziherrschaft erlebt und erlitten hat. Ihre Worte entfalten eine Intensität, die man einer zierlichen alten Dame nicht zutrauen würde. Aber Margot Friedländer hat eine Mission, die ihr ungeahnte Kräfte verleiht. „Seid Menschen!“, lautet ihre eindringliche Botschaft an die nachfolgenden Generationen. Eine halbe Stunde lang zieht sie die Abgeordneten aus 27 EU-Mitgliedstaaten in ihren Bann. Am Ende zollen sie der bewundernswerten Rednerin minutenlangen Applaus. 

„Versuche, Dein Leben zu machen“

Margot Friedländer, geborene Bentheim, die im November letzten Jahres ihren 100. Geburtstag feierte, ist eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen des Holocaust. Die gebürtige Berlinerin war 21 Jahre alt, als sie am 20. Januar 1943 ihre Mutter und ihren damals 17-jährigen Bruder Ralph zum letzten Mal gesehen hat. Die gemeinsame Flucht aus Deutschland war vorbereitet, doch an diesem Tag drang die Gestapo in ihre Wohnung ein und verschleppte den Bruder, der sich zu dem Zeitpunkt allein dort aufhielt. Die Mutter kam kurz darauf nach Hause, fand die Wohnung versiegelt, und hat sich sofort selbst der Gestapo gestellt, ohne auf ihre Tochter zu warten. Nur eine kurze Nachricht wurde ihr von der Nachbarin ausgerichtet: „Ich gehe mit Ralph, wohin das immer sein mag, Margot soll versuchen ihr Leben zu machen.“ Kein Dramatiker kann sich eine solche Szene ausdenken: Den hastigen Aufbruch ohne Abschied, die verzweifelte Mutter, die um ihr entführtes Kind bangt, die junge Frau, die in einer feindlichen Umwelt plötzlich ganz allein auf sich gestellt ist.

Margot Friedländer in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, wo sie an der Begleitdokumentation zu dem historischen Spielfilm „Die Wannseekonferenz“ mitgewirkt hat. Foto: Klaus Josef Sturm / ZDF

Die jüdischen Nachbarn im Stich gelassen

Margot Friedländer hat es nicht nur versucht, sondern auch geschafft, ihr Leben zu machen. Und was für ein Leben! Doch bevor sie den Abgeordneten erzählt, wie sie die Nazizeit überlebt hat, erinnert sie an die Wannseekonferenz vor 80 Jahren, auf der die nationalsozialistische Führung die „Endlösung der Judenfrage“, die Ermordung der europäischen Juden, beschlossen hatte. Klar und deutlich benennt sie die damalige unterlassene Hilfeleistung Europas und der Welt: „Nicht nur in Deutschland hat die Bevölkerung zugesehen und nichts getan, um ihre jüdischen Nachbarn zu beschützen. Auch in vielen anderen Ländern hat sich kaum jemand gerührt, um die jüdischen Nachbarn vor der Deportation zu retten.“ Als rühmliche Ausnahme erwähnt sie den kleinen Staat Dänemark, „wo die Bevölkerung mit dem Wissen der Regierung ihre jüdischen Mitbürger geschützt und gerettet hat.“ 

Erinnerung an die Konferenz von Evian

Mahnend ruft die Rednerin auch die gescheiterte internationale Flüchtlingskonferenz von Evian im Sommer 1938 ins Gedächtnis, die nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich vom damaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt einberufen worden war. Die Juden baten die Welt um Aufnahme, um sich vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Doch bis auf die Dominikanische Republik hielten die Teilnehmerstaaten ihre Grenzen dicht. Die spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die in Evian anwesend war, schrieb darüber entsetzt: Dazusitzen in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung.“Margot Friedländer bemerkte vor den versammelten EU-Abgeordneten nur lakonisch: “Vielleicht hätte es ohne das Versagen von Evian die Konferenz von Wannsee nie gegeben.“ 

15 Monate im Untergrund

Vielleicht hätten auch Margot Friedländer, ihre Mutter und ihr Bruder in ein sicheres Land ausreisen können, bevor die Tragödie ihren Lauf nahm, die Millionen von Menschen das Leben gekostet hat. Wie sie diese Schreckenszeit überlebte, hat sie in ihrer 2008 erschienenen Autobiographie „Versuche, dein Leben zu machen“ festgehalten. Zentrale Passagen aus dem mit der Co-Autorin Malin Schwerdtfeger verfassten Buch zitiert sie auch in ihrer Rede im EU-Parlament: „Es ist mir gelungen, gute Menschen zu finden, die mich versteckt haben. Diese Menschen haben etwas getan, das sie ihren Kopf hätte kosten können. Sie haben ihre Unterkunft und ihr Essen mit mir geteilt. Ich hatte ungefähr 16 Helfer und viele verschiedene Unterkünfte, wo ich kurz oder länger versteckt war, mehrere Male in brenzliger Situation, bis ich nach 15 Monaten im April 1944 geschnappt wurde und in das Lager Theresienstadt deportiert wurde.“ Margot Friedländer wurde von sogenannten „Greifern“ aufgespürt, von der Gestapo genötigte jüdische Kollaborateure, die durch Berlin streiften und hofften, durch den Verrat von untergetauchten Juden selbst vor der Deportation verschont zu bleiben.

„Man konnte die Lebenden kaum von den Toten unterscheiden“

Erschütternd sind die Schilderungen von Margot Friedländer über ihre Erlebnisse aus dem KZ Theresienstadt. Niemals vergessen werde sie die Ankunft von Häftlingen aus Auschwitz, die kurz vor der Befreiung des Lagers Ende April 1945 in einem langen Zug mit Viehwaggons transportiert worden waren. „Menschen, die kaum noch wie Menschen aussahen, fielen oder wurden aus dem überfüllten Waggon herausgestoßen, man konnte die Lebenden kaum von den Toten unterscheiden. Die Augen lagen tief in den Höhlen, nur die Nasen stachen spitz aus dem Gesicht. Fast alle trugen eine Art gestreifter Pyjamas, die Häftlingskleidung, es waren nur noch Lumpen, die an ihren Körpern hingen. Statt Schuhen trugen sie Holzpantinen, viele hatten nur noch einen oder gar keine mehr an. Viele hatten Ödeme in den Beinen, die dadurch dick angeschwollen waren. Andere waren nur noch Gerippe. Etwas fiel mir in die Arme, ein Mensch, so schwach, dass ich ihn tragen musste. Er war federleicht.“ 

Aus Theresienstadt über Deggendorf nach New York

In Theresienstadt hatte sie auch ihren späteren Ehemann Adolf Friedländer kennengelernt. Mit ihm zusammen erlebte sie den Tag der Befreiung, den sie den EU-Parlamentariern schildert. „Ich stehe am offenen Tor, zum ersten Mal, es gibt keine Wache mehr, keiner kann mich hindern hinauszugehen. Trotzdem stehe ich nur so da. Träume ich, kann es wahr sein, dass ich überlebt habe? Vorsichtig mache ich ein paar Schritte hinaus auf die Straße. Ich will nicht fort, ich will nur sehen, ob es wahr ist, dass ich rausgehen kann, ohne erschossen zu werden. Neben mir steht Adolf Friedländer. Wir sehen uns an. Wir erleben die Befreiung am 8. Mai 1945 zusammen. Einen Moment, den wir nie vergessen werden.“ Die beiden haben noch in Theresienstadt geheiratet, lebten anschießend ein Jahr im bayrischen DP-Lager Deggendorf und emigrierten 1946 nach New York.

Rückkehr nach Berlin

Ihr Mann starb 1997 nach 52-jähriger Ehe, insgesamt lebte Margot Friedländer 64 Jahre lang in New York, bevor sie sich 2010 wieder in ihrer Heimatstadt Berlin niederließ – im Alter von 88 Jahren! Wie es dazu kam, ist geradezu ein Wunder, und es hat damit zu tun, dass sie zu schreiben begann. Fasziniert hören die Europa-Abgeordneten zu, als die Rednerin erzählt, wie sie in einem Senioren-Club einer jüdischen Kulturorganisation Schreibkurse belegt hat und anfing, ihre Erinnerungen aufzuschreiben – ganz andere Erinnerungen als die in den USA aufgewachsenen Senioren. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Geschichte hat sie ein Regisseur entdeckt, zu einem Besuch ihrer Heimatstadt ermuntert und darüber einen Film gedreht. „Mein Berlin, ich bin so froh, in einer so schönen Stadt geboren zu sein,“ sagte sie entzückt, als sie nach Jahrzehnten erstmals wieder dort war. Anders als ihr verstorbener Mann, mit dem sie mehr als 30 Europareisen, aber um Deutschland immer einen Bogen gemacht hatte, hatte  Margot Friedländer durch ihre Untergrundhelfer auch gute Erinnerungen an ihre Heimatstadt. 

Wenn ich nicht einschlafen konnte, nahm ich mir Papier und Bleistift ins Bett, gab meinen Gedanken freien Lauf, und in diesem Augenblick hat mir die Erinnerung die richtigen Worte gegeben.

Das vierte Leben der Margot Friedländer

Die Rednerin berichtet, wie sie in Berlin neue Freundschaften schloss und den Anstoß bekam, ein Buch zu veröffentlichen. „Meine neuen Freunde ermunterten mich, über mein Leben in meiner Muttersprache zu schreiben. Nach Jahrzehnten schrieb ich meine Erinnerungen nun auch auf Deutsch nieder. Wenn ich nicht einschlafen konnte, nahm ich mir Papier und Bleistift ins Bett, gab meinen Gedanken freien Lauf, und in diesem Augenblick hat mir die Erinnerung die richtigen Worte gegeben.“ Im Jahr 2008 ist ihre Autobiographie erschienen, sie wurde ein Bestseller und war der Beginn ihres vierten Lebens, in dem sie nun unermüdlich unterwegs ist, um die Erinnerung wachzuhalten und an zukünftige Generationen weiterzugeben.

„Musterhafte Zügelung aller Emotionen“

Zu den vielen Ehrungen, die Margot Friedländer erhielt, gehört der Einhardpreis, mit dem „eine herausragende Biographie einer Persönlichkeit ausgezeichnet wird, deren wissenschaftliches, religiöses, politisches, künstlerisches oder wirtschaftliches Lebenswerk in einer engen Beziehung zu Europa steht.“ Der Einhardpreis wurde Margot Friedländer 2009 für ihre Autobiographie verliehen, aus der sie in ihrer Rede weite Strecken zitiert. Auf dieses bemerkenswerte Buch sei daher besonders hingewiesen, weil es die Geschichte ihres Überlebenskampfes im Untergrund in hoher literarischer Qualität wiedergibt. Kein Geringerer als der große Journalist Klaus Harpprecht, der auch als Redenschreiber Willy Brandts tätig war, hat in seiner nachlesenswerten Laudatio auf die Preisträgerin hervorgehoben, dass „sich das Buch überhaupt durch eine musterhafte Zügelung aller Emotionen und durch eine knappe, schmucklose Sprache auszeichnet. Kein anderer Stil war hier denkbar.“ Er gratulierte dafür ausdrücklich auch der Co-Autorin (und quasi Co-Redenschreiberin) Malin Schwerdtfeger. 

EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (Mitte) dankte Margot Friedländer für ihr inspirierendes Engagement. Sie erinnerte in ihrer Begrüßungsansprache auch an Simone Veil, die erste EU-Parlamentspräsidentin, die in Auschwitz inhaftiert war. Foto: European Union / Alain Rolland

Die Botschaft an die EU-Abgeordneten

Mehr als eine halbe Stunde spricht Margot Friedländer im EU-Parlament, und man könnte ihr noch länger zuhören. Was sehr zu empfehlen und durchaus möglich ist, da es ihre Autobiographie auch als Hörbuch gibt, von Margot Friedländer selbst gesprochen. Es ist das einzigartige Tondokument einer Zeitzeugin, in deren Stimme das Ungeheuerliche mitschwingt, über das sie berichtet. Am Ende ihrer Rede in Brüssel wendet sich Margot Friedländer direkt an die Abgeordneten. Sie appelliert an ihre Verantwortung als demokratisch gewählte „Vertreter von Millionen Menschen auf diesem Kontinent“ und mahnt, die Erinnerung wachzuhalten und nicht zuzulassen, „dass sie politisch missbraucht, manchmal sogar verhöhnt und mit Füßen getreten wird“. Ihre Schlussbotschaft: „Menschen, egal welcher Hautfarbe, Religion oder Herkunft, als Menschen zu behandeln, das gilt auch ganz besonders heute. Menschlichkeit, Toleranz und Respekt sind wichtiger denn je für ein friedliches Miteinander.“ Die auf Deutsch gehaltene Rede von Margot Friedländer wurde simultan in über 20 europäische Sprachen übersetzt. Man wünscht sich, dass sie auch noch einmal nach New York reist und vor den Vereinten Nationen spricht. 

Beim Internationalen Holocaust-Gedenktag im Brüsseler EU-Parlament sprachen außer der Gastrednerin Margot Friedländer die Parlamentspräsidentin Roberta Metsola aus Malta, die deutsche Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, und der EU-Ratspräsident, der Belgier Charles Michel. Er sagte, "Europa wäre nicht das, was es heute ist, ohne die Beiträge, die das jüdische Volk über viele Jahrhunderte hinweg geleistet hat." Am Ende gedachten die Versammelten in einer Schweigeminute der Opfer des Holocaust. Eine Aufzeichnung der Veranstaltung sowie sämtliche Redetexte sind im Multimedia Center des EU-Parlaments dokumentiert.

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