Coronakrise: Rhetorik in viraler Notlage

Auch das ist neu: Da sieht man ein junges Pärchen gemeinsam ganz gebannt auf ein Smartphone starren, und dann schauen die beiden nicht etwa eine Serie auf Netflix an oder bewundern irgendein „nices Teil“ in einem Online-Shop, sondern lauschen den Reden des Bundesgesundheitsministers und des bayerischen Ministerpräsidenten zu den Entwicklungen rund um das Coronavirus und zu den „tiefsten Einschnitten in den Alltag der Bürger in der Geschichte der Bundesrepublik“. Das beispiellose Herunterfahren des öffentlichen Lebens geht nicht nur mit Hamsterkäufen und mehr oder minder gewitzten Social-Media-Kreationen einher, sondern auch mit einer Hochzeit öffentlicher Rhetorik. Neben Regierungschefs und Fachministern sind vor allem Expert‘innen als Redner*innen gefragt. So wie der Virologe Christian Drosten, laut „Nordkurier“ die „eindringlichste Stimme in der Corona-Krise“ und für das „Handelsblatt“ der „omnipräsente Corona-Aufklärer der Nation“. Und wenn jemand wie Bundespräsident Steinmeier sich ein paar Tage Zeit lässt mit dem ersten großen Auftritt zu dem Thema, so fällt das nicht nur unserer Kollegin Nicola Karnick auf.

Kein Wunder: Schließlich ist „Rede die Kunst, Glauben zu erwecken“, wie es Aristoteles formulierte. Und genau darum geht es: den Glauben – an die Fähigkeiten der Wissenschaft, die Handlungsfähigkeit des Staates, die Wirksamkeit der verordneten Maßnahmen und nicht zuletzt an ein glimpfliches Ende. Hier zeigt die Redekunst, wozu sie fähig ist. Aktuell informieren, Aufklären, um Akzeptanz werben, zum Mitmachen bewegen, Ängste nehmen und Mut machen. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit Stimme, Körpersprache und dem politischen Gewicht von Rednerin oder Redner. Ansprache und Zuspruch sind wohl die wichtigsten Helfer in unsicheren Zeiten. Halt geben in der Not. Und mit manchen Geschichten auch Vorbilder an die Hand geben oder ganz banal für ein wenig Ablenkung sorgen. Wie bei den zehn jungen Leuten in Boccaccios Dekameron, die sich vor der Pest in ein Landhaus flüchten. Und wie bei der Feldmaus Frederick, die mit ihren Erzählungen im Winter die Herzen wärmt und ihr Volk den Hunger überstehen lässt.

Von Falken und Vernunftmenschen
„Das Coronavirus ist der Feind aller, doch die Staats- und Regierungschefs schlagen ganz unterschiedliche Töne an“, so das Zwischenfazit der „Frankfurter Allgemeinen“. „Merkel ist nüchtern, Macron martialisch, Johnson wendig und Trump – ist Trump.“ Das „nüchtern“ über unsere Kanzlerin ist hier relativ. „Emotional, empathisch und mit großer Kraft – eine Meisterleistung der Krisenkommunikation“, nennt der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen Merkels Fernsehansprache zur SARS-CoV-2-Pandemie in seiner Analyse für die „Zeit“. In ihrer Rede spricht „Mutti“ von „dramatischen Einschränkungen“ und einer „historischen Aufgabe“, aber auch von „Beistand“ und „Zuversicht“. Die „taz“ schreibt zwar auch von einer „eindringlichen“ und „bewegenden Rede“, sieht aber ein grundsätzliches „Dilemma der deutschen Reaktion auf die Pandemie“: „Wie ordnet man Maßnahmen an auf einer nach oben offenen Eskalationsskala und bleibt zugleich im Tempo und Tonfall der typisch deutschen Zurückhaltung?“ Irgendwo dazwischen die Einschätzung der „Süddeutschen Zeitung“: Die Kanzlerin habe in der Rede, „die dereinst vielleicht als ihre wichtigste gelten könnte, nicht den martialischen Auftritt gewählt, sondern angesichts der Ängste, die viele derzeit bei der Preisgabe ihrer Grundfreiheiten umtreibt, das eigene Unbehagen und das dauernde Abwägen hervorgehoben“. Im Ausland berichtet man gar beeindruckt von „Worten mit mehr Kraft als eine Höllenpredigt“. Und allein in Deutschland sahen rund 25 Millionen zu.

Markus Söder heimst derweil sowohl für seine Aussagen wie für sein politisches Handeln von allen Seiten Meriten ein. Er laufe „im Kampf gegen das Coronavirus zu Hochform auf“ und glänze durch „klare Ansagen“, heißt es im „Stern“. „Er wirkt wie ein Macher“, so das Fazit eines Berliner Rhetoriktrainers gegenüber „Watson“. „Bei seinen Statements braucht er nicht unnötig viele Worte, um seine Punkte klarzumachen. Er erscheint unprätentiös und unaufgeregt.“ Die Wirkung sei „zielführend: keine Panik zu verbreiten, aber klarzumachen, dass man Maßnahmen ergreift“.

Gemeinsinn stärken
Giuseppe Conte, Ministerpräsident des weit schlimmer betroffenen Italiens, treffe bei seinen Landsleuten derzeit ohnehin „den richtigen Ton“, konstatiert die „Zeit“. Ein Beispiel: „Italien, das können wir laut sagen, ist eine große Nation, eine große Gemeinschaft, geeint und verantwortungsvoll. In diesem Moment blickt die ganze Welt auf uns.“ Das Pathos sei goldrichtig. Dem stimme ich gerne zu. Conte demonstriert Entschlossenheit und erlaubt sich und seinen Zuhörern große Gefühle. Das kommt an: Seine Beliebtheit nimmt „trotz unpopulärer Maßnahmen“ zu.

In Krisenzeiten schlägt regelmäßig die Stunde der Rhetorik. Das gilt für Lincolns „Gettysburg Address“ oder Churchills Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede ebenso wie für Goebbels‘ Sportpalastrede. Große Reden und große Dramen der Weltgeschichte hängen so fest zusammen, dass notfalls auch mal per Fiktion nachgeholfen wird: Die berühmte aufmunternde Rede Otto I. vor der Schlacht gegen die Ungarn auf dem Lechfeld am August 955 wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit erfunden. Wer einen Krieg gewinnen will, ist gut beraten, auch auf Rhetorik zu setzen. Und Covid-19 bedeutet eben einen Krieg gegen einen unsichtbaren Feind. Umso schöner, wenn wir in diesem Krieg kein Gewehr in die Hand nehmen müssen, sondern nur ein Stück Seife. Dass wir uns dabei dennoch als zumindest kleine Heldinnen und Helden fühlen dürfen, ist Teil des gängigen Narrativs. Also bitte: Hände waschen, Eltern oder Großeltern anrufen, den Anordnungen Folge leisten und zu Hause beharrlich am Heldenstatus arbeiten!

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