Populisten könnten mitreißender reden als etablierte Politiker, heißt es. Aber was macht überhaupt eine zeitgemäße politische Rhetorik aus? Das fragt der Germanist Karl-Heinz Göttert in einer Analyse, die in der WELT veröffentlicht wurde. Er reagiert damit auf die These von VRdS-Präsident Peter Sprong, Deutschland sei durch Angela Merkel und Olaf Scholz auf Rhetorik-Diät gesetzt. Wir freuen uns, eine Debatte angestoßen zu haben.
In wenigen Wochen, am 1. November, jährt sich eine Politikerrede, die ungewohnt Furore machte. Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck hatte sich im Anschluss an den Terror der Hamas in Israel vom 7. Oktober 2023 gegen Antisemitismus gewandt. Die Zustimmung war parteienübergreifend, eine Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnete sie mit dem jährlich vergebenen Preis der „Rede des Jahres“ aus.
Was dabei weniger beachtet wurde: Habeck sprach nicht im Bundestag oder bei einem sonstigen parlamentarischen Anlass. Es handelte sich um ein zehnminütiges Video, gesendet auf dem Messengerdienst X, vormals Twitter. Der messbare Erfolg lag in den Klicks – 10 Millionen mal.
Eine „moderne“ Rede also, was das Medium anlangt, auch vom leger-schlipslosen Auftritt her. Und doch nach der überzeugenden Analyse der Tübinger Experten eine durchaus „klassische“: mit Antithesen („Zu viel scheint mir zu schnell vermischt worden zu sein“), mit persönlichem Bezug („Ein jüdischer Freund berichtete mir“), nahbar, authentisch.
Frage: Gibt es „gute“ Reden nur noch in den sozialen Medien, während im politischen Alltag Langeweile herrscht, „rhetorische Magersucht“, wie es kürzlich der Präsident des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache, Peter Sprong, im „Kölner Stadt-Anzeiger“ formulierte? Nicht ohne die Vergangenheit zu loben, mit Reden von Willy Brandt (bei seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1968) oder Richard von Weizsäcker (zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985) zum Beispiel.
Sprong erklärte sogar den Erfolg von Populisten wie Björn Höcke und Sahra Wagenknecht damit, dass spätestens seit Angela Merkel deutsche Bundeskanzler ihr Volk auf „Rhetorik-Diät“ gesetzt hätten. Beim derzeitigen Amtsinhaber sei die Kost noch schmaler und wässriger geworden. Den Hunger der Wähler nach klaren Worten stillen dafür immer mehr die Populisten. Ihre Erfolge, so Sprong, beruhten auf „einer Art ‚Imbissbudenzauber‘“: „Sie liefern einer rhetorisch auf Diät gesetzten Menge vermeintlich das, wonach sie hungert.“
Aber könnten bessere Reden tatsächlich etwas am weit verbreiten Unmut gegenüber der etablierten Politik ändern? Um noch einmal zu Habeck zu kommen, dessen Rede das Herz nicht nur von Rhetorikfachleuten höher schlagen ließ: Die Zustimmung zu seiner Politik blieb danach niedrig, erholte sich nach dem Absturz im Januar 2024 nur wenig. Im September lag die Zufriedenheit bei 24, die Unzufriedenheit bei 64 Prozent, noch nach Friedrich Merz und Sahra Wagenknecht, nur knapp vor Christian Lindner und deutlich vor Olaf Scholz.
Was das in nüchterner Betrachtung zeigt? Mit Reden, auch mit „guten“, lässt sich mitunter wenig gewinnen. Zur Rede gehören zwei Partner: der Redner und der Angeredete. Und bei diesem zweiten Partner hat sich in der jüngsten Vergangenheit viel geändert. Er wird immer schwerer erreichbar. Redner mussten seit je bei ihren Anliegen gegen Vorurteile kämpfen, ein großer Teil der „klassischen“ Redekunst besteht in entsprechenden Kniffen. Was aber, wenn die Ablehnung sich nicht mehr auf die Anliegen, sondern auf die Reden selbst bezieht?
Genau damit haben wir es zu tun und es gibt auch einen Grund für den epochalen Wandel: das Aufkommen der sozialen Medien. Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten! Als 2011 in Syrien, Tunesien, Ägypten die Massenproteste begannen, die als „Arabischer Frühling“ in die Geschichte eingingen, lag ein entscheidender Motor in der Nutzung von Facebook und Twitter, wo sich Forderungen und Meinungen austauschen, Treffen organisieren ließen. Die Selbstverbrennung des syrischen Händlers Baschar-al-Assad im März 2011 wurde in einem Video festgehalten, über Facebook ins Internet gestellt, dort von den Rechercheuren des Senders al-Jazeera entdeckt und ausgestrahlt. Auch die Ereignisse während der „Tage des Zorns“ auf dem Tahirplatz in Kairo ebenfalls 2011 wären ohne soziale Medien nicht denkbar gewesen, die Weltpresse sprach von einer „Facebook-Revolution“.
Nur wurde das, was für Demokratie eingesetzt wurde, alsbald auch gegen sie verwendet. Die Gründung von Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) 2014 organisierte sich von Anfang an über Facebook und Twitter, zusätzlich über Telegram, von wo aus die Benutzer mit einem Weltbild versorgt wurden, das stark durch Verschwörungstheorien geprägt war. Auch die im Zusammenhang der Antiimpfkampagne 2020 entstandene Bewegung der „Querdenker“ steuerte die Meinungsbildung mithilfe sozialer Netzwerke. Es ging hier wie dort um eine Form der Vergemeinschaftung, die sich in einer abgeschlossenen Welt ohne Austausch von Informationen jenseits der eigenen Apps, Chats und Posts bewegte. Man muss nicht betonen, dass in diese Welt Reden nicht mehr eindrangen.
Der Resonanzraum für Reden hat sich durch die sozialen Medien in einem Maße verändert, dass Vergleiche mit der Vergangenheit schwierig, wenn nicht unmöglich werden.
Kurzum: Der Resonanzraum für Reden hat sich durch die sozialen Medien in einem Maße verändert, dass Vergleiche mit der Vergangenheit schwierig, wenn nicht unmöglich werden. Und dabei ist nicht einmal die jüngste Entwicklung der Künstlichen Intelligenz einbezogen. Mit der Erstellung von Fake News, besonders in der heimtückischen Form von Deepfakes (realistisch wirkenden Medieninhalten), aber auch schon mit Microtargeting (Versorgung mit Informationen nach speziellen Ansichten oder Vorlieben der Nutzer) eröffnet sich eine Welt, in der Wahrheit und Schein sich aufzulösen drohen. Während die EU gerade ein Gesetz auf den Weg gebracht hat, das wenigstens in Ansätzen eine Regulierung anstrebt, gibt es in den USA keinerlei Hürden, wie sich in den Bestrebungen von Elon Musk zeigt, der für sein Unternehmen eine „Meinungsfreiheit“ durchzusetzen sucht, die jede Art von Verzerrung oder Verunglimpfung toleriert.
Worauf es hier ankommt: Redner haben es heutzutage mit ihren Reden schwer, ja kämpfen gegen eine Übermacht. Erstaunlicherweise hat das bis zuletzt nicht zu Abstrichen bei der rhetorischen Ausformung geführt. „Gute“ Reden, wie sie etwa Barack Obama in Fülle geliefert hat, sind rhetorisch ausgetüftelt. Wenn man noch etwas weiter zurückblickt, etwa zur „I have a dream-Rede“ von Martin Luther King, reibt man sich fast die Augen angesichts einer überbordenden „Rhetorik“ der Antithesen, Reihungen, Paradoxe. Und nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass Donald Trump (bzw. sein Redenschreiber) gerade diese Rede auf unfassbare Weise kopierte, als er die mangelnde Freiheit der Schwarzen („verkrüppelt durch die Fesseln der Rassentrennung… schmachtet der Neger noch immer…, befindet sich im eigenen Land im Exil“) durch die mangelnde Beteiligung des einfachen Volkes am Reichtum der Eliten ersetzte (“Volk hat die Kosten getragen… nichts von dem Reichtum gehabt… in Armut gefangen“).
Man sollte sich klarmachen, womit man konkurriert: mit populistischen Verkürzungen im Schnellformat der sozialen Medien.
Es steht außer Frage, dass rhetorisch geformte Reden auch heute noch üblich sind und auch Erfolg haben können. Selbst der viel gescholtene Bundeskanzler Olaf Scholz hat (wohl mit der völlig normalen Beteiligung von Redenschreibern) Entsprechendes etwa in seiner „Zeitenwende-Rede“ praktiziert. Aber es dürfte kaum sinnvoll sein, von einer Rückkehr zu rhetorischer Brillanz allzu viel zu erwarten. Es ist nicht unbedingt „Magersucht“, sondern durchaus richtig empfundene Scheu davor, den Ton zu verfehlen, wenn sich Politiker rhetorisch zurückhalten. Was ein Großteil der Adressatinnen und Adressaten überhaupt noch zum Zuhören bewegen dürfte, sind „Fakten“, nicht zuletzt Erklärungen für getroffene oder zu treffende Entscheidungen, vor allem ist es der Verzicht auf blumiges Schönreden von Schwierigkeiten und Missständen.
Man sollte sich jedenfalls immer klarmachen, womit man konkurriert: mit populistischen Verkürzungen im Schnellformat der sozialen Medien, deren Messengerdienste nicht umsonst als „Kurznachrichten“ charakterisiert werden. Einen Weg aus der Schwierigkeit hat Robert Habeck aufgezeigt: Er hat seine „Rede“ in den sozialen Medien veröffentlicht. Aber er hat etwas womöglich Naheliegendes nicht getan: sich mit den Populisten gemein zu machen, indem er deren Sprache einfach kopiert. Habecks Rede verzichtet auf einiges Traditionelle wie etwa das „standesgemäße“ Auftreten und nicht zuletzt die Länge der Rede – er wählt nicht gerade TikTok-Format, aber unterbietet mit den zehn Minuten das Übliche erheblich.
Auch dies ist nicht auf jeden Fall anwendbar. Aber mit Nahbarkeit und Authentizität dürfte ein gangbarer Weg gewählt sein, auf dem auch ein gewisses rhetorisches Geschick nicht schadet. Nur muss man sich am Ende darüber im Klaren sein, dass auch dann noch der Erfolg alles andere als garantiert ist.
Der Beitrag wurde am 26. September 2024 in der WELT veröffentlicht, unter einer anderen Überschrift auch online.