Protokoll über die Massenvernichtung der polnischen Juden

Quelle: Screenshot Bundestag TV | 27. Januar 2012 | Marcel Reich-Ranicki

Nach der Rede von Marcel Reich-Ranicki am 27. Januar 2012 herrschte zunächst Schweigen. Erst nach zehn Sekunden erhob sich der Bundestag und klatsche eine Minute lang. Der damalige Bundespräsident Christian Wulff und der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Andreas Voßkuhle stützten den 91-jährigen, der den Applaus stehend entgegennahm. Anschließend begleiteten die obersten Verfassungsrepräsentanten den erschöpften Redner langsam an seinen Platz; die Zuhörer, immer noch stillstehend, schwiegen ergriffen. In den dreißig Minuten zuvor hatten sie den nüchternen Bericht über einen „Verwaltungsakt“ gehört. Der Literaturkritiker hatte bereits anfangs darauf hingewiesen, dass er nicht wie ein Historiker zu reden gedenke, sondern als Zeitzeuge. Nüchtern und ohne jegliches Pathos folgte der Report über die „Umsiedelung der Warschauer Juden in den Osten“. Diese erfolgte im Rahmen der „Aktion Reinhardt“, einem bürokratischen Massenmord von „Schreibtischtätern“, die die Deportation polnischer Juden in die Vernichtungslager Treblinka, Belzec und Sobibor akribisch organisiert hatten.

Protokollant der Vernichtungsverfügung

Der SS-Sturmbannführer Hermann Höfle war am 22. Juli 1942 mit seinen Schergen vor dem Hauptgebäude des „Judenrates“ im Warschauer Ghetto vorgefahren. Dort „begab er sich forsch und zügig“ ins erste Stockwerk zum Amtszimmer des Obmanns des Judenrates, Adam Czerniaków, und eröffnete diesem die „Umsiedlung“ der Bewohnerinnen und Bewohner des Ghettos in den „Osten“. Marcel Reich-Ranicki lebte mit Eltern und Bruder seit 1938 im Ghetto. Er arbeitet als Korrespondent und Übersetzer für den Judenrat und war zufällig zur Stelle, als Höfle von Czerniaków einen Protokollanten anforderte. In der anschließenden Sitzung diktierte der „wohlbeleibte, glatzköpfige Mann“ seine „Eröffnungen und Auflagen für den ›Judenrat‹“.

Der frühere F.A.Z. Literaturchef referiert nun vor dem Bundestag, was er in seine Schreibmaschine schrieb, nachzulesen im Bundestagsarchiv. „Alle jüdischen Personen“, die in Warschau wohnten, würden „gleichgültig welchen Alters und Geschlechts“, nach Osten umgesiedelt werden. Nur sechs Personenkreise waren ausgenommen. Heute würde man diese zunächst verschonten Leute als systemrelevant für die Abwicklung des Warschauer Ghettos bezeichnen, wozu auch der Protokollant selber zunächst gehörte. Nach einer Aufzählung, was die Bewohner mitnehmen durften, folgte eine Liste, wie mit Leuten zu verfahren sei, die „die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören“ wagten. Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: „… wird erschossen.“ Der damals 22-Jährige hörte in dieser bizarren Sitzung, wie vor dem Haus wartende SS-Männer Walzer von Johann Strauß auf einem Grammophon spielten. Aus unteren Stockwerken ertönte „Die schöne blaue Donau“ sowie „Wein, Weib und Gesang“. „Ich dachte mir“, berichtet Marcel Reich-Ranicki dem Bundestag: „Das Leben geht weiter, das Leben der Nichtjuden. Und ich dachte an sie, die jetzt in der kleinen Wohnung mit einer graphischen Arbeit beschäftigt war, ich dachte an Tosia, die nirgends angestellt und also von der „Umsiedlung“ nicht ausgenommen war.“

Anzahl der Deportierten abhängig von verfügbaren Viehwaggons

Seine Mitarbeiterin riet Reich-Ranicki dann, er müsse sofort seine Freundin Teofila heiraten, sonst würde sie in wenigen Tagen deportiert. Der Redner schildert nun, wie er seine „Tosia“ noch am selben Tag heiratete und mit einer auf den 7. März vordatierten Heiratsurkunde vor der Deportation rettete. Am folgenden Tag, dem 23. Juli 1942, beginnen SS-Schergen mit dem gewaltsamen Zusammentreiben der Juden am „Umschlagplatz“. Statt der ursprünglich geforderten 6.000 Juden sollten in den nächsten Tagen 7.000 bis 10.000 täglich dort zusammengetrieben werden. „Es handelte sich hierbei keineswegs um willkürlich genannte Ziffern“, erläutert der Zeitzeuge. „Vielmehr hingen sie allem Anschein nach von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons ab; sie sollten unbedingt ganz gefüllt werden.“ Für Adam Czerniaków war es unerträglich, dass diese „Verfügung zur Umsiedelung“ seinen Namen tragen würde. Er nahm Zyankali und hinterließ einen Brief, aus dem Reich-Ranicki zitiert: „Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet dies nicht als einen Akt der Feigheit oder eine Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht ertragen. Meine Tat wird alle die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des Handelns bringen …“ Marcel Reich-Ranicki endet: „Was die „Umsiedlung“ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.“

Banalität des Bösen ermordet 1.274.166 polnische Juden

Was Hannah Arendt über den Eichmannprozess schrieb, lässt die Zuhörer nach diesem Zeitzeugenbericht begreifen: Die „Banalität des Bösen“ manifestiert sich in einer unmenschlichen Technokratie des Terrors, in jedem dieser kaltblütigen Verwaltungsakte, die hunderttausendfach unter der Nazidiktatur erlassen wurden. Höfle berichtete als Leiter der Hauptabteilung „Aktion Reinhardt“ im Generalgouvernement Polen direkt an Adolf Eichmann. Er war maßgeblicher Technokrat für die sogenannte Endlösung, den millionenfachen Judenmord. Erst im Jahr 2000 veröffentlichte der britische Geheimdienst Funksprüche Höfles, Höfle-Telegramme genannt, an Eichmann im Reichssicherheitshauptamt. Die Briten hatten eine Liste von Zahlen entschlüsselt, die die Summe 1.274.166 ergaben. Erst später wurde ihre Bedeutung bekannt. Es ist die Zahl der bis zum 31. Dezember 1942 in den Vernichtungslagern des Generalgouvernements Polen getöteten Juden.

Rede des Jahres 2012 – ohne typische Gedenkrhetorik

Die Rede von Marcel Reich-Ranicki war im engeren Sinne keine Rede. Die Zuhörenden erlebten den profiliertesten und sonst äußerst unterhaltsamen Literaturkritiker in seiner Rolle als Protokollanten im Warschauer Ghetto in einer völlig anderen Rhetorik. Es war eine Zeugenaussage in einer Ermittlung, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Gleichwohl entfaltete sie in ihrer Diskrepanz zwischen dem bekannten Literaturpapst und der nüchternen Darstellung seiner Jugenderlebnisse eine Kraft, ja eine Wucht, die weit über unsere Zeit hinausreicht. Wohl auch deshalb wurde sie vom Rhetorischen Seminar der Universität Tübingen als „Rede des Jahres 2012“ ausgezeichnet. Aus der Begründung der Jury: „Mit der Schilderung einer persönlichen wie welthistorischen Schlüsselszene aus dem Warschauer Ghetto entfaltet er auf eindringliche und äußerst ungewöhnliche Weise die Macht des gesprochenen Wortes. Reich-Ranicki verweigert sich der konventionellen Gedenkrhetorik und verzichtet auf Appelle, Mahnungen oder Forderungen. Stattdessen rückt er das Prinzip der Evidenz, namentlich die Vergegenwärtigung eines entscheidenden Moments in der Vernichtungsgeschichte der Juden, in den Vordergrund.“

 

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Jacqueline Schäfer
    23. Februar 2021 14:30

    „Es war eine Zeugenaussage in einer Ermittlung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.“ Treffend formuliert!

  • Thilo v. Trotha
    17. Juni 2021 16:37

    Die Trauer und Erschütterung, die dieses furchtbare Ereignis ausgelöst hat, wird spürbar. Das ist verdienstvoll und gut.

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