Wahlkampf 2025: Die politische Rede lebt – Wer die Redekunst beherrscht, wird gehört

Redenschreiberverband analysiert Rhetorik der Spitzenkandidaten: Lindner, Merz und Wagenknecht überzeugen mit rhetorischer Stärke – Habeck und Reichinnek mit modernen Formaten und Nahbarkeit – Scholz lässt Chancen verstreichen

Berlin, 19.02.2025: Ohne klaren Sieger, dafür mit einem Verlierer geht die diesjährige Analyse der Wahlkampfreden aus, die der VRdS gestern Abend in Berlin vorgestellt hat. Einig waren sich die Analystinnen und Analysten des Verbandes darüber, dass Olaf Scholz die Chancen einer Mobilisierung seiner Wählerschaft durch mitreißende Reden am deutlichsten hat verstreichen lassen. Durch ihre Fähigkeit beim freien Reden positiv aufgefallen hingegen sind Sahra Wagenknecht, Christian Lindner und Friedrich Merz. VRdS-Präsident Peter Sprong: „Diesen dreien gelingt es, ihre jeweiligen Positionen in der Sache mit emotional akzentuierten und dramaturgisch strukturierten Reden so zu verdeutlichen, dass man ihnen auch über einen längeren Zeitraum gut folgen kann.“ Die Ergebnisse wurden im Anschluss beim 6. VRdS-Salongespräch mit Gästen aus Politik, Wissenschaft und Medien diskutiert.

Einen klaren rhetorischen Sieger habe es unter den Spitzenkandidaten diesmal aber nicht gegeben, so Sprong: „Niemand hat Hirn und Herz gleichermaßen erobert. Und niemand hat in diesem Wahlkampf eine Rede gehalten, an die wir uns auch in zwei oder drei Jahren noch erinnern werden.“ Dennoch gab es jede Menge rhetorischer Highlights, Überraschungen, aber auch erstaunliche Tiefpunkte. Und die Erkenntnis: Die politische Rede lebt – und wer sie beherrscht, wird gehört.  Bei der Beobachtung kristallisierten sich laut VRdS vor allem drei Trends heraus:
  1. Immer mehr Politikerinnen und Politiker wollen frei reden, aber die wenigsten können es.
  2. Emotional akzentuierte Reden werden häufiger.
  3. Gute Argumente werden eher sperrig präsentiert.

Die Influencerin: Heidi Reichinnek

Heidi Reichinnek trat in diesem Wahlkampf mit einer klassischen Rede nur im Bundestag auf und nicht auf Wahlkampfveranstaltungen, ansonsten beschränkte sie sich auf Statements bei Townhall-Events. Was ihr aber mit dieser einen Rede gelang, beweist: Reden können mächtig sein. 30 Millionen Klicks auf TikTok und eine regelrechte Welle von Neueintritten in eine fast schon abgeschriebene Partei lassen aufhorchen.

Die Rhetorikerin: Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht weiß nach vielen Talkshowauftritten, wie man einen Applaus gezielt herbeiredet: durch klassische „Triaden“, mit denen in drei Schritten die Hauptaussage im Stil einer „Punchline“ vorbereitet wird. Das hat zwar populistische Anklänge, geht aber durchaus noch als legitimes rhetorisches Stilmittel durch. Ebenso wie die zahlreichen Anaphern, Alliterationen und rhetorischen Fragen, die sie verwendet. Sie findet eingängige Vergleiche und Sprachbilder wie Mieten, die „durch die Decke schießen“ oder die „Mondpreise“ der Pharmaunternehmen.

Der Routinier: Christian Lindner

„Nur eine frei gehaltene Rede kann eine gute Rede sein“: Diese Behauptung stimmt nur dort, wo jemand diese Kunst tatsächlich beherrscht – und so jemand ist Christian Lindner. Er behält auch ohne Skript einen roten Faden und sendet klare Botschaften. In diesem Wahlkampf schaffen das neben ihm am ehesten Sahra Wagenknecht und Friedrich Merz. Wer die freie Rede nicht beherrscht, sollte sie lieber ausformulieren – mit geordneten Gedanken, einfachen Sätzen und sauber konstruierten Argumenten.

Der Nahbare: Robert Habeck

Robert Habeck baut immer wieder narrative Passagen in seine Reden ein, die von konkreten Personen und Begegnungen handeln – seien es seine Küchentisch-Gespräche oder die Seniorin aus seinem Wahlkreis Kappeln, für die der Widerstand gegen Rechtsextremismus ganz selbstverständlich ist.  Seine Wortwahl ist betont verstehbar, damit schafft er es, Nähe aufzubauen – dies gelingt ihm häufig besser in Digitalformaten als bei klassischen Wahlkampfreden.

Der Macher: Friedrich Merz

Friedrich Merz inszeniert sich als Macher, indem er apodiktische Aussagen bevorzugt („Lieferkettengesetz – weg damit!“) und Entschlossenheit demonstriert. Zugleich wechselt er geschickt zwischen lauten und leisen Tönen, zwischen politischen Statements und erzählenden Momenten, um es seinem Publikum möglichst angenehm zu machen. Mal mit Skript, mal vom Prompter, mal frei, immer verständlich.

Die Wortakrobatin: Alice Weidel

Sucht man in den bislang gehaltenen Reden nach Sprachbildern, die diesen Wahlkampf überdauern, dann bleiben am Ende wahrscheinlich nur Alice Weidels „Re-mi-gration“ und ihre „Windmühlen der Schande“. Wendungen also, die bei den eigenen Anhängern zünden und ansonsten hauptsächlich zündeln. Und die mithin eher unter „Propaganda“ fallen als unter „Professionelle Rede“ – aber eben das bekommen, was ansonsten nicht immer allen gelingt: Aufmerksamkeit und Gehör.

Der Berechenbare: Olaf Scholz

Olaf Scholz macht in diesem Wahlkampf konsequent einen Bogen um alles, was nach Populismus oder Pathos klingen könnte, was ihn dem Verdacht der „Verstellung“ oder der „Schauspielerei“ ausliefern könnte. Seine Botschaft, so scheint es: „Ich bin die Verkörperung der Besonnenheit und Rationalität, deshalb kann man sich auf mich verlassen. Überraschungen wird es mit mir nicht geben“ – aber eben auch keine überraschende Wahlkampfrede, keine Aha-Momente, keine Emotionen.

Kaum berührende Reden ohne Polemik

Das Analyseteam resümiert: Dieser Wahlkampf hat gezeigt, dass es nur den wenigsten gelingt, auf Polemik zu verzichten, sauber zu argumentieren und dabei dennoch berührende, wirkungsvolle oder mitreißende Reden zu halten. Aber eben auch, dass es insgesamt besser bestellt ist um die Kunst der Rede, als noch vor ein paar Jahren. Insgesamt macht dieser Wahlkampf Hoffnung darauf, dass die Redekunst künftig auch bei uns wieder einen höheren Stellenwert bekommt. Denn immer mehr Politikerinnen und Politiker scheinen zu erkennen, dass sie mit rhetorisch gut gemachten Reden auch in Zeiten von Social Media viel bewirken können. Ob diese Erkenntnis den Wahltag überdauert, wird sich zeigen.

Salongespräch über Rhetorik im Wahlkampf

V.l.: Peter Sprong, Ruprecht Polenz, Dr. Simon Lübke, Gabriele Dunkel (Foto: Ausserhofer)

Im Anschluss an die Vorstellung der Analyseergebnisse durch VRdS-Vizepräsident Jürgen Sterzenbach diskutierten die Verbandsmitglieder ihre Eindrücke und Erkenntnisse mit Vertretern aus Medien, Politik und Wissenschaft. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz (CDU) beobachtet, dass die Bedeutung der Rede als Wahlkampfinstrument insgesamt abnimmt, zumal man dort hauptsächlich die eigenen Anhänger erreiche. Reden auf den Marktplätzen seien Wahlkampf von gestern – heute komme es vor allem auf den Social-Media-Auftritt an. ARD-Hauptstadtkorrespondentin Gabriele Dunkel warb für kurze Sätze in Politikerreden: Das sei nicht nur angenehmer für Zuhörer vor Ort kurze, prägnante Sätze, die nicht geschnitten werden müssen, könnten außerdem besser für Fernsehbeiträge genutzt werden. Sie wies auch darauf hin, dass ein noch so häufiges Wiederholen einer Aussage nicht unweigerlich dazu führt, dass dies in der Tagesschau gesendet würde, auch wenn einige Rednerinnen und Redner das mit großer Hingabe versuchten. Kommunikationswissenschaftler Simon Lübke unterstrich die Schwierigkeit, den Erfolg von Reden abstrakt zu beurteilen: Rhetorische Perfektion sei das eine. Ob eine Rede von den Zuhörern als gut und vor allem authentisch empfunden werde, entscheide sich aber auch durch Sympathie und Nahbarkeit. Da verzeihe man auch rhetorisch nicht perfekte Reden.

VRdS-Vizepräsident und Leiter des Wahlanalyseprojekts Jürgen Sterzenbach (Foto: Ausserhofer)
6. VRdS-Salongespräch über die Rhetorik des Bundestagswahlkampfs 2025 (Foto: Ausserhofer)
VRdS-Präsident Peter Sprong (Foto: Ausserhofer)