Einst waren Reden das effektivste Mittel, um Führungspersönlichkeiten sichtbar zu machen und deren Botschaften glaubhaft zu vermitteln. Doch heute stellt sich die Frage: Erreichen soziale Medien dieses Ziel nicht schneller, einfacher und kostengünstiger?
Bis 1896 gab es für US-Präsidentschaftskandidaten im Grunde nur eine Methode, um die Bürger von sich und ihren Ideen zu überzeugen: das direkte Gespräch auf der Veranda ihres Hauses. Diese Art der Kommunikation war sehr persönlich und ermöglichte es den Bürgern, den Kandidaten kennenzulernen. Doch sie hatte einen entscheidenden Nachteil: Die Reichweite war stark begrenzt. 1896 wagte der Demokrat und Präsidentschaftskandidat William Jennings Bryan deswegen etwas Neues: Er reiste durch über 700 Städte und sprach vor mehr als vier Millionen Menschen. Auch wenn er die Wahl verlor, folgte ihm vier Jahre später der republikanische Kandidat und ging ebenfalls auf große Wahlkampftour durch das ganze Land.
Authentisches Kommunikationselement
Die Chance, in gleicher Zeit nicht nur einen, sondern Hunderte von Menschen zu erreichen und dabei einen bleibenden persönlichen Eindruck zu machen, wollte sich fortan kein Kandidat mehr entgehen lassen. Über ein Jahrhundert lang war die Rede das zentrale Instrument, um Führungskräfte in den Fokus zu rücken und ihre Ideen authentisch zu vermitteln.
Und heute? Im Wahlkampf 2020 wählte der Präsidentschaftskandidat Joe Biden erneut einen anderen Weg. Aufgrund der Corona-Pandemie hielt er deutlich weniger Reden und nutzte stattdessen verstärkt seine Social-Media-Kanäle – mit Erfolg.
Über soziale Netzwerke können Führungskräfte – wenn sie geschickt agieren – mit ihrer Zielgruppe beinahe so kommunizieren, als säßen sie gemeinsam auf der Veranda. Diese Art der Kommunikation ist zudem nahezu unbegrenzt skalierbar – ein Traum für Kommunikationsstrategen.
Rede bald überflüssig?
Ist die Rede darum bald überflüssig? Sicher nicht. Der Wunsch, Führungskräfte hautnah zu erleben, ist ein wichtiges menschliches Bedürfnis. Und die Rede bleibt ein starkes Mittel, um diesem Bedürfnis nachzukommen.
Allerdings: Der Kontext, in dem Reden heute gehalten werden, hat sich radikal verändert. In der digitalen Welt können Führungskräfte nicht nur umfangreiche Einblicke in ihr Leben und ihre Gedanken bieten. Das Publikum erwartet regelrecht, einen Blick hinter die Kulissen werfen zu können. Mehr denn je wollen die Zuhörer und Nutzer wissen: Wer ist dieser Mensch, der das Land führen, ein Unternehmen leiten oder einen Verband repräsentieren will?
Veränderte Bedingungen
Redenschreiber müssen sich auf diese veränderten Bedingungen einstellen. Sie sind heute nicht mehr nur dafür verantwortlich, Botschaften zu formulieren und überzeugende Reden zu schreiben. Sie spielen eine aktive Rolle beim Aufbau und der Pflege der persönlichen Marke des Redners.
Noch vor wenigen Jahren genügte es, den Kunden vor dem Schreiben einer Rede nach Details aus seinem Alltag oder seiner Biografie zu fragen, um die Botschaften für den jeweiligen Anlass authentischer und persönlicher zu gestalten. Heute entwickeln viele Redenschreiber mit ihren Kunden umfassende Personal-Branding-Strategien. Lebenslauf des Redners, Werte, Kernbotschaften, zentrale Themen und die Tonalität der gesamten Kommunikation werden ausführlich besprochen. Darauf aufbauend entsteht ein detaillierter Redaktionsplan, der genau festlegt, über welche Kanäle die Botschaften und Inhalte wann, wie oft und in welcher Form kommuniziert werden. Die Rede ist dabei nur einer von vielen Kanälen – und längst nicht mehr der wichtigste.
Chance für Redenschreiberinnen und Redenschreiber
Ende des 19. Jahrhunderts revolutionierte die Einführung von Redetouren die politische Kommunikation. Ein aufregendes Genre – die Rede – erlebte einen schnellen Aufstieg. Später wurde die Rede auch in Unternehmen, Schulen, Universitäten, Vereinen und Verbänden zu einem wichtigen Kommunikationsmittel. Die Rede veränderte die Art und Weise, wie Führungskräfte kommunizierten, grundlegend.
Heute erleben wir einen ähnlichen Umbruch, der den zwischenmenschlichen Gedankenaustausch in allen Lebensbereichen grundlegend verändert. Diese Entwicklung ist mindestens genauso spannend wie die ersten Wahlkampf- und Redetouren Ende des 19. Jahrhunderts. Redenschreiber haben die Chance, diese Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und anderen Bereichen entscheidend mitzugestalten – vorausgesetzt, sie sind bereit, diese Herausforderung anzunehmen.