Mit mir stehen sechs Millionen Ankläger

Drei Tage dauerte die Anklagerede des israelischen Generalstaatsanwalts Gideon Hausner beim Eichmannprozess. Foto: National Photo Collection / GPO

„Wenn ich hier vor Ihnen stehe, Richter Israels, um die Anklage von Adolf Eichmann zu leiten, stehe ich nicht allein. Mit mir stehen sechs Millionen Ankläger. Aber sie können nicht aufstehen und einen anklagenden Finger auf den richten, der auf der umglasten Anklagebank sitzt und schreien: „Ich klage an.“ Denn ihre Asche häuft sich auf den Hügeln von Auschwitz und den Feldern von Treblinka und übersät die Wälder Polens. Ihre Gräber sind über die gesamte Länge und Breite Europas verstreut. Ihr Blut schreit, aber ihre Stimme ist nicht zu hören. Deshalb werde ich ihr Sprecher sein und in ihrem Namen die schreckliche Anklage entfalten.“

Mit diesen Worten leitete Gideon Hausner am 11. April 1961 die Anklage des Staates Israel gegen Adolf Eichmann ein. Mit ihnen ist im Grunde bereits alles gesagt, um was es dem israelischen Generalstaatsanwalt bei dem Prozess ging: Die nicht nur strafrechtliche, sondern auch die historische Aufarbeitung der Jahrtausende währenden Judenverfolgung, die in den Holocaust kulminierte, der arbeitsteilig angelegten, fabrikmäßigen Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden. Da die Ermordeten keine Aussage mehr machen konnten, präsentierte Hausner dem Gericht über 100 Männer und Frauen, die das Konzentrationslager überlebt hatten, als Zeuginnen und Zeugen ihrer Deportation und ihrer Erlebnisse im Lager. Diese Zeugen stammten aus allen Ländern, die von Deutschland besetzt gewesen waren oder in denen das Naziregime seine Rassenpolitik mithilfe willfähriger Statthalter hatte durchsetzen können. Über die spezifische Tätigkeit des Angeklagten, Referatsleiter IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt, konnten sie regelmäßig keine Auskünfte erteilen; persönlich hatten sie ihn gar nicht gekannt.  

Dies war neu. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/46 hatte sich die Anklage noch ganz wesentlich auf schriftliche Dokumente gestützt, in denen das Tun der Angeklagten ebenso nüchtern wie präzise-bürokratisch festgehalten war. Dem Inferno ein Gesicht zu geben, war die Idee Gideon Hausners, der sich damit über die ursprünglichen Vorstellungen der legendären Polizeieinheit 06, die den Prozessstoff aus Archiven in aller Welt zusammengetragen und Eichmann damit über Monate konfrontiert hatte, hinwegsetzte. 

Aus der Sicht eines Staatsanwalts stellt sich hier die Frage: Was ist Sinn und Zweck der Anklage, ohne die bekanntlich ein Strafprozess nicht stattfinden kann, und was kann ein Strafprozess leisten?

Die Anklage hat zunächst die schlichte Aufgabe, die Prozessbeteiligten, wozu auch der Angeklagte zählt, über den diesem zur Last gelegten Tatvorwurf zu informieren und darzulegen, welches (Straf-)gesetz die Anklagebehörde dadurch als verletzt ansieht. Zudem wird durch die Anklage der Vorwurf präzise umgrenzt. Das Gericht darf ausschließlich über die angeklagte Tat und nicht etwa auch über weitere Taten, seien sie auch noch so offenkundig, verhandeln und urteilen.

Der Gerichtssaal Beit Ha’am in Jerusalem. Das Verfahren gegen Adolf Eichmann wurde filmisch aufgezeichnet und ist auf YouTube vollständig dokumentiert. Foto: National Photo Collection / GPO

Die Kritik Hannah Arendts

Hat Hannah Arendt dann doch recht, wenn sie in ihrer zunächst in der Zeitschrift New Yorker und später in Buchform erschienenen Darstellung des Eichmannprozesses Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen schreibt:

Es geht um seine (Eichmanns) Taten und nicht um die Leiden der Juden; ihm wird hier der Prozess gemacht, nicht dem deutschen Volk oder der Menschheit, nicht einmal dem Antisemitismus und dem Rassenhass. (…) Für die Anklage stand die Geschichte selbst im Mittelpunkt des Prozesses. „Nicht ein einzelner sitzt in diesem historischen Prozess auf der Anklagebank und nicht auch das Naziregime, sondern der Antisemitismus im Verlauf der Geschichte.“ Diesen Ton hatte Ben Gurion angeschlagen, und Oberstaatsanwalt Hausner setzte ihn treulich fort, als er bei Prozessbeginn seine einleitende Anklagerede (die drei volle Sitzungstage lang dauerte) mit Pharao in Ägypten und Hamam einleitete – „zu vertilgen, zu erwürgen und umzubringen alle Juden, jung und alt, Kinder und Weiber, auf einen Tag“ – und dann fortfuhr, Hesekiel zu zitieren: „Ich aber ging vor dir vorüber, und sah dich in deinem Blute liegen, und sprach zu dir, da du so in deinem Blute lagst: du sollst leben!“ Herr Hausner erklärte, wie man diese Worte verstehen müsse, nämlich als „den Imperativ, der an dieses Volk ergangen ist, seit es zum ersten Mal auf die Bühne der Geschichte trat“. Ganz abgesehen von der Geschichtsklitterung und der billigen Rhetorik dieser Interpretationen, vertrug es sich ganz und gar nicht damit, Eichmann in den Mittelpunkt der Verhandlung zu stellen, weil aus ihnen ja eigentlich folgte, dass er nichts weiter war, als der „unschuldige“ Vollstrecker irgendeines geheimnisvollen vorausbestimmten Geschicks bzw. das historisch notwendige Ausführungsinstrument des ewigen Judenhasses, der den „blutbefleckten Weg“ zu bereiten hatte, „den dieses Volk wandern“ musste, um seine Bestimmung zu erfüllen.

Fulminanter und rigoroser konnte eine Kritik an der Anklage kaum ausfallen, Sympathie für den Ankläger lässt Hannah Arendt an keiner Stelle ihrer Darstellung auch nur ansatzweise erkennen. 

Gewiss: Die Tat eines Angeklagten ist nie nur aus sich heraus zu verstehen. Sie steht immer in einem gesellschaftlichen und sozialen, aber auch in einem historischen Kontext, der für die Beurteilung der Tat und der Schuld des Angeklagten von Bedeutung sein kann. Einem Zusammenhang, bei dem im Übrigen nicht allein die Täter-, sondern auch die Opferperspektive in den Blick zu nehmen ist. Lässt sich das Jahrtausendverbrechen des Holocaust tatsächlich ohne die tausendjährige Geschichte der Judenverfolgung und des Antisemitismus zutreffend einordnen? Eichmann selbst hat den Vorwurf, er sei Antisemit, stets schroff von sich gewiesen; mit Leuten wie Julius Streicher, der als Herausgeber des Stürmers einen eher primitiven Antisemitismus verbreitet hatte, wollte er partout nichts zu tun haben. 

Lehrstück über die Shoah

Indes wollte Gideon Hausner mit seiner Anklage mehr: Der Prozess sollte ein Lehrstück werden über die Shoah und über deren Opfer, sicherlich kein Schauprozess, wie manche seinerzeit kritisierten. 

Die Frage stellte sich damals und stellt sich auch heute noch: Kann ein Strafprozess über seine eigentliche Aufgabe hinaus, nämlich das für das Urteil wesentliche Tatgeschehen festzustellen und die Schuld des Angeklagten zu ermessen, auch einen Beitrag zur historischen Wahrheit leisten? Präzise: Darf das Gericht seine Beweisaufnahme auf Tatsachen erstrecken, die allenfalls in einem mittelbaren Zusammenhang zu dieser Kernaufgabe stehen oder kann dies umgekehrt im Einzelfall sogar geboten sein?

Kann ein Strafprozess über seine eigentliche Aufgabe hinaus, nämlich das für das Urteil wesentliche Tatgeschehen festzustellen und die Schuld des Angeklagten zu ermessen, auch einen Beitrag zur historischen Wahrheit leisten?

Die Anhänger der strengen Auffassung verkennen, dass ein Prozess immer in einem bestimmten gesellschaftlichen und historischen Umfeld stattfindet und selbst Auswirkungen hierauf entfaltet. Dies ist durchaus gewollt, soll dem Verfahren und der Verurteilung auch eine generalpräventive Wirkung zukommen. Ziel eines jeden Prozesses ist es zudem, Rechtsfrieden herzustellen. Wie aber kann Rechtsfrieden einkehren, wenn sich aufdrängenden Fragen nicht nachgekommen worden ist oder Widersprüche nicht geklärt worden sind, weil das Gericht dies für die Urteilsfindung nicht als bedeutsam angesehen hat? Beispiele auch aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass die kontrovers geführte Diskussion über eine aus Sicht der Tatopfer unzureichende Sachaufklärung des Gerichts das von diesem gesprochene Urteil überlagert – auch wenn die Entscheidung allgemein auf große Akzeptanz stößt. 

Es ist für jedes Gericht eine Gratwanderung zu entscheiden, welche Feststellungen es für die Durchführung des Prozesses und die anschließende Urteilsfindung erforderlich hält und mit welcher Intensität und in welcher Tiefe es die Beweismittel ausschöpft. Vieles hängt dabei sicherlich von den Umständen des Einzelfalls ab. Eine Grenze wird aber erreicht sein, wenn die Aufklärung bestimmter Umstände keinerlei Zusammenhang mit der Feststellung des (eigentlichen) Tatgeschehens mehr erkennen lässt. So hat auch das Gericht in Jerusalem Anträge und Fragen der Anklagebehörde zurückgewiesen, wenn es hierfür keine Anhaltspunkte sah. Die Grenze zulässiger Sachaufklärung wird ohne jeden Zweifel überschritten sein, wenn der Angeklagte dadurch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns wird, das Verfahren zum reinen Schauprozess mutiert. Darüber, dass die Durchführung des Eichmannprozesses rechtsstaatlichen Erfordernissen gerecht wurde und das Gericht den Grundsatz des fair trial nicht verletzt hat, sind sich Historiker und Juristen heute einig.

Den Opfern Gesicht und Stimme gegeben

Den Opfern der Shoah vor Gericht Gesicht und Stimme zu geben, hat sich letztlich als richtig und wichtig erwiesen. Wohlwissend, dass Zeugen in ihrer subjektiven Wahrnehmung und die Erinnerung zuweilen verfälschender Aufarbeitung des Erlebten gegenüber schriftlichen Quellen manchmal nur unzuverlässige Beweismittel sind, waren diese Zeugenaussagen prägend für den Eichmannprozess. Nur dadurch, dass ehemalige Insassen von Ghettos und Konzentrationslagern über die dort begangenen Massaker in allen Einzelheiten berichteten, konnte die gesamte Dimension der Verbrechen einer Öffentlichkeit, die sich zu Beginn der 60er Jahre weniger für die Vergangenheit als für die Zukunft interessierte, plastisch vor Augen geführt werden. Eichmann sah sich für die Geschehnisse in den Ghettos und Lagern nicht verantwortlich, seine Zuständigkeit endete, wie er nicht müde wurde zu betonen, wenn der Transport seinen Zielort erreicht hatte. Die Aussagen der Zeugen, die bei ihm deshalb auch keine erkennbaren Reaktionen auszulösen vermochten, dienten in hohem Maße der Herstellung des Rechtsfriedens. Hierzu beigetragen hat ganz sicher auch die (zeitversetzte) Übertragung des Prozesses im Fernsehen, der vor allem in Israel, aber auch in Deutschland und in anderen Ländern einen intensiven Diskurs über die Shoah angestoßen hat. 

Der Holocaust-Überlebende Yoel Brand, einer von über 100 Zeugen des Prozesses. Foto: National Photo Collection / GPO

Aus Anlass des 50. Jahrestages des Eichmannprozesses hat die französische Historikerin Annette Wieviorka diese Auswirkungen wie folgt beschrieben:

Der Eichmann-Prozess hatte eine kathartische Wirkung auf die israelische Gesellschaft. Er hat das große Schweigen über die Shoah gebrochen. Er hat den Überlebenden wieder zu einer Identität verholfen, die im Kern darin besteht, dass sie Träger der Geschichte sind. Das Subjekt der Erinnerung bezeugt, dass die Vergangenheit existiert hat und immer noch lebendig ist. Standen in Nürnberg die Henker und die Mechanismen, die zum Krieg geführt hatten, sowie der Wille im Mittelpunkt, den Krieg, die Kriegshetzer und -verbrecher zu ächten, verschob sich die Aufmerksamkeit in Jerusalem auf die Opfer. So trat neben den Wunsch, durch die Schaffung eines internationalen Strafrechts, auf dessen Grundlage Politiker vor Gericht gestellt und bestraft werden können, in den Lauf der Geschichte einzugreifen, in Jerusalem der Wille, eine Sammlung von Erinnerungen aufzubauen, die reich ist an Lehren für heute und morgen.

Auswirkungen auf das internationale Recht

Für weitere Verfahren war der Eichmann-Prozess richtungweisend; er hatte zudem Auswirkungen auf die Fortentwicklung des (internationalen) Rechts: 

In den großen Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, wie den Ausschwitz-Prozessen in Frankfurt am Main sowie den beiden Treblinka- und dem Majdanek-Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf, aber auch in einer Vielzahl weiterer Verfahren bis in die jüngste Vergangenheit war es für die Staatsanwaltschaften eine Selbstverständlichkeit, Opferzeugen ausfindig zu machen und diese als Beweismittel zu benennen. In den Hauptverhandlungen wurden diese Zeugen angehört und stellten für die Gerichte eine wichtige Grundlage für ihre Entscheidungsfindung dar.

Inzwischen hat sich auf der Grundlage des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, dem Israel allerdings bislang nicht beigetreten ist, der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) konstituiert, der zuständig ist für die Aburteilung der vier Kernverbrechen des Völkerstrafrechts, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen. Soweit der Internationale Strafgerichtshof nicht tätig werden kann, etwa weil eine entsprechende völkervertragliche Grundlage fehlt, hat Deutschland mit dem Völkerstrafgesetzbuch Regelungen getroffen, die eine Ahndung entsprechender Verbrechen in Deutschland zulassen. Von dieser Möglichkeit macht der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof Gebrauch, sofern sich ein Deutschlandbezug feststellen lässt. In anderen Ländern existieren vergleichbare Regelungen.

Jenseits der (straf-)rechtlichen Aufarbeitung haben sich in Deutschland und anderen Ländern Initiativen gebildet, Überlebende der Shoah zu interviewen, die Zeugenberichte zu archivieren und diese einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Mit diesen Projekten wird die Erinnerung an die schlimmste Epoche der Menschheit wachgehalten. Gabriel Bach, der neben Gideon Hausner (und Jaacov Bar-Or) die Anklage gegen Eichmann vertreten hatte, hat seine Prozesserfahrungen bei vielen Gelegenheiten bereitwillig einem größeren Publikum vermittelt.

 

Die Aufzeichnung des Eichmann-Prozesses ist in großen Teilen online (von Yad Vashem auf YouTube eingestellt) verfügbar, auch die das Verfahren eröffnende, dreitägige Anklagerede Gideon Hausners. Es ist auch heute noch in höchstem Maße erkenntnisreich, sich die alten Schwarz-Weiß Aufnahmen bewusst anzusehen. In Verfahren vor deutschen Strafgerichten wäre dies übrigens nicht möglich, weil Bild- und Tonaufnahmen von (öffentlichen) Hauptverhandlungen, anders als in vielen anderen Staaten und bei internationalen Strafgerichtshöfen wie dem IStGH oder dem Jugoslawientribunal, bislang in Deutschland nicht erlaubt sind. 

 

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Emil Brachthäuser

Emil Brachthäuser ist Generalstaatsanwalt a.D. und Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Düsseldorf.

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