„Mehr Kennedy wagen“ – Ein Nachruf auf die politischen Reden zum Jahreswechsel

Weihnachtsansprache 2022, Quelle: Bundespräsidialamt

Lieber Herr Bundespräsident,
lieber Herr Bundeskanzler,
und auch liebe Frau Bundesverteidigungsministerin,

hier schreibt Ihnen ein „lieber Mitbürger“. Und sicher merken Sie sofort: Irgendetwas stimmt hier nicht. Wahrscheinlich meine ich es ja nur gut, aber soviel Liebe in der Anrede, das klingt doch seltsam. Ich kenne Sie ja gar nicht persönlich. Und wollen Sie wirklich „lieb“ sein? Irgendwie hört es sich auch nach Kindermund an, so als schriebe ich an den Nikolaus: „Lieber Weihnachtsmann…“

Das wiederum ist gar nicht so unpassend, denn das folgende versteht sich durchaus auch als eine Art von nachträglichem Wunschzettel – gerichtet an Sie, unser politisches Top-Personal in Ihrer Eigenschaft als öffentliche Rednerinnen und Redner. Ich schreibe diese Zeilen am Abend des 3. Januar 2023. Das Weihnachtsfest, die „Tage zwischen den Jahren“, der Silvesterabend – das alles liegt hinter uns. Geschafft. Vollbracht. Endlich wieder Alltag. Aber bevor es damit wieder so richtig losgeht, will ich doch noch einen Moment innehalten und den Worten hinterher lauschen, die Sie in den zurückliegenden Tagen an uns, die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“, per TV und/oder Social Media gerichtet haben; an die „lieben Landsleute“, die „vielen Menschen in unserem Land“ und so weiter.

Was, glauben Sie, würden diese „Menschen“ antworten, wenn man sie fragte: Wann hat Ihnen eigentlich eine Weihnachts- oder Neujahrsansprache mal gefallen? Wir würden also gar nicht erst nach rhetorischen Volltreffern fragen, nach Reden, die Begeisterung ausgelöst hätten oder auch Betroffenheit, Nachdenklichkeit oder die gar eine Inspiration gewesen wären. Derlei – sicher stimmen Sie mir da zu – erübrigt sich. 

Stattdessen wissen wir bei Reden des Genres „Jahresende“ in der Regel schon, bevor es losgeht: Es wird bestenfalls langweilig. Manchmal buchstäblich austauschbar.

Käme es eines Jahres anders, wären wahrscheinlich sogar Sie selbst verwundert, wenn Sie ehrlich sind. 

Interessant ist doch die Frage: Haben Ihre Weihnachts- und Neujahrsansprachen überhaupt noch eine Chance? Wovon müssten sie handeln und wie müssten sie klingen? Oder anders gefragt: Kann man es dem Zuschauer-Volk überhaupt noch irgendwie recht machen? 

Ja, Sie lesen da ganz richtig. Ich will andeuten: Möglicherweise hat auch ein Publikum immer die Rednerinnen und Rednerinnen, die es verdient. Es liegt vielleicht gar nicht nur an Ihnen persönlich oder an Ihren Redenschreiberinnen und Redenschreibern, wenn Ihre Jahres-End-Botschaften (und andere „große“ Reden zur Lage der Nation) nicht so recht zünden. 

Besonders die Kolleginnen und Kollegen will ich hier mal ausdrücklich aus der Schusslinie der Kritik nehmen. Schon von Amts wegen, als Präsident des VRdS. Aber auch aus eigener beruflicher Erfahrung: „Yes, we can“ oder „I have a dream“ – das würden wir alle gerne mal in ein Manuskript schreiben. Aber wir wissen von vornherein: Es hat keinen Zweck. Hat es wirklich nicht. 

Nicht nur, weil unsere Auftraggeber meist Deutsche sind und als solche vor allem „bodenständig“ wirken wollen und weil sie mit Visionen eher zum Arzt gehen, sondern vor allem deshalb, weil Reden de facto immer seltener in den Köpfen (oder gar: Herzen) derer entstehen, die sie halten und/oder schreiben, sondern durch die Mühlen einer Organisations-Bürokratie gedreht werden. Ob Ämter und Ministerien oder die Fachabteilungen eines Großkonzerns: Nichts wird gesagt und verlautbart, was nicht zuvor auf unzähligen Goldwaagen gewogen und für unbedenklich erklärt worden ist.

Rhetorische Risiken, so lautet Artikel Eins der ungeschriebenen Kommunikations-Verfassungen in den PR-Abteilungen, sind möglichst zu vermeiden. Stattdessen regiert der „strategische Dialog“, das abgezirkelte Wort.

Zu dumm nur, dass in der Rhetorik wie im Rest des Lebens gilt: „No risk. No fun.“ Aber Pathos macht deutschen Rednerinnen und Rednern nun einmal Angst. Es steht entweder unter „Sportpalast-Verdacht“ oder man fürchtet sich lächerlich zu machen. So oder so: Am Ende einer solchen Rede-Produktionsmühle linst durch hohle Phrasen und zu oft gehörte Worthülsen höchstens noch ein schaler Rest von echtem Gefühl hindurch. 

Besonders gerne tritt es uns in subjektivierter Form gegenüber, distanziert, so dass man es gut aushalten kann, weil es nach nichts mehr riecht und nach nichts mehr schmeckt und nach nichts mehr klingt. Dann tritt das Gefühl auf als „Gemeinsamkeit“ und „Zusammenhalt“, als „Gegenwind“, dem wir natürlich mit „Zuversicht“ begegnen sollen, mit „Hilfsbereitschaft“ (fest verschweißtes, zugehöriges Adjektiv: „überwältigend“) und „Mitgefühl“, am besten „landauf und landab“, „hier bei uns in Deutschland“, wo „unsere“ Ingeneurinnen und Ingenieure an der Zukunft bauen. 

Dazu werden dann, weil „Story Telling“ ja wichtig ist und emotionale Nähe stiften soll, „Geschichten“ erzählt. Gute Idee eigentlich! Allerdings: Sobald Sie dazu sagen, dass Sie jetzt gleich eine Geschichte erzählen werden, ist der Übergang zum „Märchenonkel“ mindestens fließend. Bitte also: Nicht über das Reden reden.

Sie wollen eine Geschichte erzählen, um einen abstrakten Gedanken zu veranschaulichen? Gut so. Aber dann erzählen Sie einfach – ohne Einleitungen („ich möchte Ihnen heute Abend von Kindern erzählen…“) und Begründungen („ich erzähle Ihnen diese Geschichte, weil…“), mit denen Sie bei Ihrem Publikum indirekt um Entschuldigung für diese emotional gefärbte Behelligung bitten – und so die Kraft Ihrer „Story“ selbst sabotieren.

Aber das ist nur das eine: all diese vermeintlich „kleinen“ sprachlichen Signale des Betulichen, der inneren Sterilität bei gleichzeitig implizit erhobenem Empathie-Anspruch, damit des irgendwie Un-Echten und Un-Ehrlichen, dieser Sound des Tröstlichen, hinter dem sich eine besonders unangenehme Form der Herablassung verbirgt. Sie lässt an den Vater denken, der sich zu seinem gestürzten und noch schluchzenden Kind hinunter beugt  – gut gemeint, natürlich – und ihm wieder auf die Beine hilft: „Ja, das hat jetzt wehgetan. Aber sieh doch mal, wie weit Du schon gekommen bist. Du machst das ganz toll.“ Selbst bei Kindern kann derlei schief gehen. Unter Erwachsenen gilt, was ein Unternehmensberater einmal sagte: „Lob macht klein.“ Und da hat er recht. 

Quelle: Bundesregierung

Denn das ist das andere, liebe Herren Scholz und Steinmeier: Sie meinen es gut, wenn sich der Kern Ihrer Reden um positive Beispiele des Zusammenlebens in diesem Land dreht. Sie wollen Anerkennung zum Ausdruck bringen und zeigen, dass es bei aller Kritik und Sorge auch Grund für Optimismus gibt. Aber damit das gut Gemeinte auch genau so ankommt, muss die Kirche im Dorf bleiben. Denn es stimmt ja nicht, dass wir „alle mitnehmen“ (hören Sie Ihre Rede an diesem Punkt mal mit den Ohren eines Bürgergeld-Empfängers, einer Pflegekraft oder einer Kita-Angestellten) oder dass die „Installateure… mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass unser Land eine gute Zukunft hat.“ Das ist schlicht eine Nummer zu groß, klingt deshalb unglaubwürdig und treibt Ihr Publikum vor dem Hintergrund seines ohnehin generalisierten „Gelaber-Verdachts“ gegenüber Politikerinnen und Politikern schnell in den inneren Widerstand.

Installateure sorgen mit ihrer Arbeit zunächst einmal für funktionierende Heizkessel und ja: Sofern Sie auch Solaranlagen montieren, leisten sie einen Beitrag zur Energiewende. Aber die „Zukunft des Landes“? Dafür sind Sie selbst zuständig, nicht die Installateure. 

Es sei denn, Sie wollen an die Adresse der Jüngeren sagen: „Lasst Euch auch in solchen Berufen ausbilden. Wir brauchen Euch.“ Und an die Älteren: „Macht Euch die Mühe der Ausbildung. Sie ist auch Dienst an der Gemeinschaft.“ Das wäre im Sinne Kennedys: „Frag nicht, was Dein Land für Dich tun kann, sondern was Du für Dein Land tun kannst.“ Augenhöhe und Respekt also statt paternalistischer Lobeshymnen, denn wirklich ernst genommen wird nur der, von dem wir etwas erwarten. 

Mehr Kennedy wagen also, das wäre schon etwas! Und vielleicht auch: mehr Spontanität? So etwa, wie die Verteidigungsministerin?

Neujahrsbotschaft auf Twitter, Quelle: Focus Online

Das nun bitte nicht! Auf keinen Fall! Trotzdem muss man ihr eigentlich dankbar sein, besonders als Redenschreiberin oder Redenschreiber. Denn auch aus Ihrem Böller-Beitrag lässt sich lernen: Es lohnt sich schon, vorab ein wenig Mühe auf das zu verwenden, was man öffentlich sagt. Auch das ist ein Zeichen von Respekt (und von Respektlosigkeit, wenn man sich die Mühe nicht macht). Auch die Entscheidung, wie man etwas sagt, wann und wo, ist integraler Bestandteil der Wirkung. Selbst ein Social Media Post ist in diesem Sinne eine Rede. Viele, nicht nur die Ministerin, haben das noch nicht verstanden. 

Stattdessen erliegen sie einem Authentizitäts-Irrtum:

Eben weil die vorbereiteten Reden z.B. der Weihnachts- und Neujahrsredner einen eher schalen Nachgeschmack hinterlassen, kommen Menschen wie Christine Lambrecht auf die Idee, die Sache „mal eben schnell“ und „aus dem Handgelenk“, vor allem „ganz ungekünstelt und authentisch“ anzugehen. Sie glauben: Genau das wollen die Leute.

Denn schließlich ist es ja das, was „die Leute“ antworten, wenn man sie nach ihrem Willen fragt: Persönlicher soll das politische Personal sein, nahbarer, unverkrampfter. Einfach mal so reden wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sollen „die da oben.“ Kurzum also: Genau das tun, was die Verteidigungsministerin getan hat. Das Ergebnis zeigt einmal mehr: Nur die wenigsten von uns taugen tatsächlich als Expertinnen und Experten in eigener Sache. Es ist nicht immer richtig, wenn wir kriegen, was wir zu wollen meinen.

Was wir allerdings wissen, und wovon auch politische Jahreswechsel-Rednerinnen und -redner ausgehen dürfen, das ist die objektive Rollen-Realität. Die Bürgerinnen und Bürger sind der Souverän. Das politische Personal ist dazu da, den in Wahlen formulierten Willen des Souveräns in politische Praxis zu übersetzen. Das ist die dienende Seite. Zugleich müssen Kanzler und Präsident mehr wissen als der Souverän, denn sie bestimmen, wo es langgeht. Das ist die führende Seite. 

Dienen und Führen zugleich – darin besteht auch (und gerade) im Augenblick des gesprochenen Wortes die spagathafte Herausforderung. Und je nach Weltlage wird sie eher zu der einen oder anderen Seite zu beantworten sein. Immer aber muss dabei der Respekt Regie führen. 

Gerade Sie, Herr Scholz sollten das wissen. „Respekt“ war doch das Leitmotiv Ihres Wahlkampfes. Damit sind Sie Kanzler geworden. Bitte vergessen Sie das nicht – auch nicht bei der nächsten Neujahrsansprache.

Peter Sprong

Peter Sprong ist Präsident des VRdS. Seit 2004 widmet sich der freie Journalist und PR-Unternehmer mit der SprongCom GmbH in Köln vor allem dem Thema „Öffentliches Reden und Präsentieren“. Dabei begleitet er Top-Führungskräfte aus Wirtschaft (CEO-Level), Politik, Kultur, Medien und Wissenschaft als Redenschreiber ebenso wie als Berater und Coach.

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Detlef Eckert
    6. Januar 2023 15:30

    Die Kritik macht Sinn. Mir fehlt in diesen Reden, der Abstand zum Tagesgeschäft, einmal von außen reflektieren. Eine Warum Frage erörtern. An Ihrem Text stört mich die ständige Doppelnennungen der Geschlechter. Warum bloß dieses Aufblähen?

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