Aufstehen. Zähne putzen. Wählen gehen. Ich mag es, gleich morgens im Wahlbüro aufzukreuzen und mein Kreuzchen zu machen. Danach eine Runde im Wald spazieren gehen und ausgedehnt frühstücken. Herrlich, so ein Wahlsonntag. Viel schöner als Briefwahl. Heute ist mir im Wahlbüro ein Vater aufgefallen, der seine kleine, geschätzt dreijährige Tochter mitgenommen hat. Das finde ich klasse. Sie wird das Wählen später auch einmal lieben.
Eigentlich müsste uns Wählern der Rote Teppich ausgerollt werden. Eine Blaskapelle vor dem Wahllokal fände ich auch toll. Und der Wahlzettel sollte gestaltet sein wie eine Speisekarte. Heute hatte ich die Wahl unter 34 Parteien. Sicherlich, die meisten schmecken mir nicht und bei manchen wird mir regelrecht schlecht. Selbst meine Lieblingspartei bereitet mir ab und zu Bauchschmerzen.
Trotzdem genieße ich es, wählen zu gehen. Dann fühle ich mich wie ein König. Und das bin ich auch. Demokratie heißt Herrschaft des Volkes. Das Volk ist der Souverän. Heute sind in Europa 370 Millionen Königinnen und Könige aufgerufen, ihre Diener auszuwählen und als Abgeordnete auf Zeit ins EU-Parlament zu schicken. Das Spannende daran ist, dass wir tatsächlich freie Wahlen haben und man nie genau weiß, wie sie ausgehen werden. Wie langweilig und gruselig – man denke an Putin, Kim Jong-un oder die Mullahs – ist ein Wahltag in Ländern, in denen das Ergebnis schon vorher feststeht.
Joachim Gauck hat in einer Rede einmal davon berichtet, wie er es empfunden hat, nach dem Zusammenbruch der DDR zum ersten Mal an einer freien Wahl teilnehmen zu können. Er war damals schon über 50 Jahre alt und hat geweint wie ein Kind, nachdem er das Wahlbüro verlassen hatte. Es waren Glückstränen.
Churchills Vision
Dass heute so viele Menschen in Europa frei wählen können, ist alles andere als selbstverständlich. Vorausgegangen waren Krieg und jahrzehntelanger politischer Kampf. Zuerst musste Hitler-Deutschland besiegt, dann der Sowjet-Kommunismus und DDR-Sozialismus überwunden werden. Der erste, der die Idee eines vereinten Europas populär machte, war Winston Churchill. Dem zähen Gegenspieler Hitlers ist zu verdanken, dass wir heute überhaupt in einem freien Europa leben und nicht unter einer braunen Diktatur. Am 19. September 1946 hielt Churchill vor Studenten in Zürich die inspirierende Rede „Let Europe arise!“, die dem Gedanken der europäischen Einigung damals großen Auftrieb gab. Zitat:
„Ich möchte heute über die Tragödie Europas zu Ihnen sprechen. Dieser edle Kontinent, der alles in allem die schönsten und kultiviertesten Gegenden der Erde umfasst und sich eines gemäßigten, ausgeglichenen Klimas erfreut, ist die Heimat aller großen Muttervölker der westlichen Welt. Er ist die Wiege des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Hier liegt der Ursprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit. Könnte sich jemals ein vereintes Europa das gemeinsame Erbe teilen, wäre seinen drei- oder vierhundert Millionen Bewohnern Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmaße beschieden.“
Tatsächlich ist Churchills Vision wahr geworden. Und doch erleben wir heute eine neue Tragödie. Putins Terrorkrieg gegen die Ukraine, der mörderische Islamismus und der grassierende Antisemitismus sind gewaltige Herausforderungen. Sie alle haben die gleiche Wurzel: den fanatischen Hass auf die Freiheit, gepaart mit der groben Missachtung der Menschenwürde. Deshalb ist die Europawahl für mich diesmal wichtiger denn je.
Entdeckung im Park
Ich war letztes Jahr einmal in Brüssel und habe dort das EU-Parlament besichtigt. Kein Besuchermagnet wie der Reichstag in Berlin oder das Palais Bourbon in Paris, aber interessant. Und dann die Entdeckung: Gleich nebenan gibt es ein grünes Kleinod, den Leopoldpark, ehemals ein Lustgarten und Zoo, heute eine Idylle inmitten der Großstadt.
Dort fiel mir gleich nach dem Verlassen des Parlamentsgebäudes eine seltsame Figurengruppe auf. Erst beim zweiten Hinschauen erkannte ich, dass es sich um Straußenvögel handelte. Bis auf einen hatten sie alle den Kopf in den berühmten Sand gesteckt. Angeblich sollen die Skulpturen daran erinnern, dass hier einmal ein Zoo war. Aber wem käme an diesem Ort nicht eine subtile Anspielung auf die Vogel-Strauß-Politik in den Sinn?
Mir gefällt die damit verbundene Mahnung an die Politik, den Problemen ins Auge zu sehen. Denn nichts ist derzeit in Europa gefährlicher, als die Realität der Bedrohungen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Auch das Nichtwählen bedeutet Wegschauen und ist keine gute Entscheidung. Ich liebe unser freies Europa. Deshalb war es mir heute ein königliches Vergnügen, das Zepter zu schwingen und meinen Stimmzettel in die Urne zu werfen.