Unglaubliches ist geschehen: Dr. Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, solidarisierte sich mit den Opfern des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023. Unglaublich jedenfalls für rund 2000 Personen aus der deutschen Kulturszene, die ihm in einem offenen Brief „Rassismus“ vorwarfen, weil er gegen die antisemitischen Ausschreitungen in Neukölln nach dem Terroranschlag protestiert hatte. Eine regelrechte Boykottkampagne wurde gegen ihn gestartet. Doch Gass blieb standhaft und erhielt dafür von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) die Ernst-Cramer-Medaille, mit der seit 2013 Persönlichkeiten in Israel und Deutschland ausgezeichnet werden, die sich in besonderer Weise um die bilateralen Beziehungen beider Länder verdient gemacht haben. Sie wurde ihm am 9. Juni 2024 im Bremer Rathaus auf Einladung von Bürgermeister Andreas Bovenschulte überreicht. Die Laudatio hielt der renommierte Politikwissenschaftler Dr. Wolfgang Kraushaar – eine Würdigung des isolierten, aber standhaften Preisträgers und zugleich eine fulminante Abrechnung mit Teilen des deutschen Kulturbetriebs.
Was am 7. Oktober geschehen ist, war unbestreitbar ein Pogrom und das auf israelischem Boden. Der eliminatorische Antisemitismus war damit zurück. Aber nicht etwa im Land der Täter, sondern ausgerechnet im Zufluchtsland der Holocaust-Überlebenden. Das Drama, das sich an der Grenze zum Gaza-Streifen vollzog, führte zwei bittere Wahrheiten mit sich: Erstens, die Tatsache, dass aller militärischen Anstrengungen zum Trotz die vom jüdischen Staat gegebene Schutzgarantie gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern zerbrochen war. Und zweitens, dass sich auf einen Schlag über den offenen hinaus nun auch noch der latente Antisemitismus in der Diaspora Bahn zu brechen vermochte: In den Vereinigten Staaten, in Europa und auch in Deutschland, in einem Land also, das ja auf seine Erinnerungskultur meint, so stolz sein zu können.
Nun, hierzulande wird häufiger demonstriert: Hunderttausende von Querdenkern sind während der Corona-Pandemie auf die Straße gegangen, eine halbe Million wegen Russlands Überfall auf die Ukraine und zuletzt vier Millionen wegen der Deportationsphantasien der extremen Rechten, insbesondere der der AfD. Aber nach dem 7. Oktober ist bei uns kaum etwas anderes als ein „dröhnendes Schweigen“ zu vernehmen gewesen. Zu sehr viel mehr als einem staatlich organisierten Umzug von einigen Tausend am 22. Oktober vor das Brandenburger Tor war es nicht gekommen. Das dürfte kein Zufall gewesen sein.
Das Gegenteil von Solidarität
Denn die Empathielosigkeit mit den Opfern der Hamas verfügt, wie noch auszuführen ist, über ein vergiftetes fundamentum in re. Stattdessen geschah eher das Gegenteil von Solidarität. Im Kulturbetrieb etwa kam es zu einer Boykottkampagne ausgerechnet jemanden gegenüber, der zu mehr Solidarität für die israelischen Opfer aufgerufen hatte. Das ist – mit Verlaub – eine Schande. Es traf mit Lars Henrik Gass den langjährigen Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage und ging so weit, sogar dessen Ablösung zu verlangen. Was hatte er sich zu Schulden kommen lassen?
Gass hatte am 20. Oktober auf der Facebook-Seite der Oberhausener Kurzfilmtage gepostet: „Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle!“ Wer nun aber kam, das waren 2000 Personen aus dem Kulturbetrieb, die ihm in einem Offenen Brief vor allem „Rassismus“ wegen der angeblichen Diskriminierung der Neuköllner Bevölkerung meinten vorwerfen zu können. Inzwischen, über ein halbes Jahr nach dem 7. Oktober, ist unverkennbar geworden, dass wir ein Problem mit den Solidaritätsverweigerern haben – an den Universitäten, an den Hochschulen und im gesamten Kunst- und Kulturbetrieb; in den Hörsälen und Seminaren, auf den Theaterbühnen, in den Akademien und in den Konzertsälen. Nur zu häufig setzt man sich nicht nur ausschließlich für die palästinensische Seite ein, nein, man versucht – wie das zuletzt auch beim Auftritt von Eden Golan beim Eurovision Song Contest in Malmö zu beobachten war – Israel zu boykottieren, zu isolieren und möglichst vollständig von der internationalen Bühne zu verbannen.
Israel ist jetzt der neue Star der globalen Cancel-Culture.
„Viele Veranstaltungen“, schrieb unlängst ein Journalist in der NZZ, „sind jetzt judenrein.“ Auf Filmfestivals würden kaum noch israelische Filme aufgeführt, auf der Berlinale nicht und auch in Cannes nicht. Und wenn ein Film wie jüngst der über Golda Meir gezeigt werden soll, dann wird er nur zu schnell wieder abgesetzt, weil man Schwierigkeiten befürchtet. Der Kulturbetrieb neigt offenbar dazu, zu kapitulieren. Angesichts dieser Abwendung blieb selbst Haaretz zuletzt nur noch Sarkasmus übrig. „Israel“, so hieß es in der linken Tageszeitung, „ist jetzt der neue Star der globalen Cancel-Culture.“ Was braucht es noch der israelfeindlichen BDS, so könnte man sich fragen, wenn im vorauseilenden Gehorsam bereits alles beiseite geräumt worden ist? Dass dem so ist, dürfte ein kaum noch abzustreitendes Indiz für ein tieferliegendes Problem sein. Dafür, dass wir es mit einer regelrechten, sich seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten abspielenden und bis hin zur Besetzung von Lehrstühlen reichenden Neuformierung des Denkens zu tun haben, zu deren Resultaten eine höchst einseitige Haltung zum Nahostkonflikt zählt. Diese Einstellung verrät sich bereits in den Catchwords, den Schlagworten dessen, was nun unter dem Dach einer Identitätspolitik firmiert: der Wokeness, der Diversity, der Critical Race Theory, den Postcolonial Studies und der Cancel-Culture als ihrer praktischen Konsequenz.
Es ist kein Zufall, dass dies alles Versatzstücke sind, für die kein kohärentes theoretisches Gebäude existiert. Vornehmlich sind es Emanationen eines postmodernen Denkens, das sich aus Diskurselementen französischer Philosophen wie Foucault, Derrida, Baudrillard und Lyotard zusammensetzt. Für die identitätspolitische Formierung ist allerdings von Relevanz, dass deren Denkfiguren häufig einen Umweg über US-amerikanische Universitäten gemacht haben, bevor sie als sogenannte „French Theory“ zurückgespült wurden und auch an den Gestaden europäischer Universitäten und Akademien Unheil stiften konnten. Nachdem im Zuge der Postmoderne das kategoriale Besteck des Aufklärungsdenkens gewissermaßen in Trümmer gelegt worden war, schuf man sich identitätspolitische Krücken, um sich nicht nur akademisch, sondern mehr und mehr auch politisch zu positionieren. Kurzum, die verdeckte wie die offene Feindschaft gegenüber Israel hat sich in diesem identitätspolitischen Lager regelrecht munitioniert.
Apartheid als Skandalisierungsvokabel
Israel etwa als Staat Apartheid vorwerfen zu wollen, ist vor allem Ausfluss einer derartigen Ideologie. Eingefleischte Gegner suchen ganz offenbar nach einer Skandalisierungsvokabel, mit der sie den zionistischen Staat diskreditieren und letztlich in Gänze aburteilen und verdammen können. Dass das insbesondere von Exponenten der Identitätspolitik unternommen wird, liegt auf der Hand. Für sie geht es in ihrem manichäischen Weltbild vor allem darum, mit einem entgrenzten Rassismusvorwurf zu hantieren. Israel, so heißt es, werde von „Weißen“ beherrscht, die als „Indigene“ eingeschätzte Palästinenser zu unterdrücken versuchten. Der zionistische Staat ist jedoch weder im Hinblick auf sein Rechtssystem noch auf seine Politik mit dem untergegangenen südafrikanischen Apartheidsystem gleichzusetzen.
Niemand hat das, was sich an dieser theoretischen Frontlinie abspielt, so bündig auf den Punkt gebracht wie der französische Philosoph Pascal Bruckner. Die Argumentation des Autors, der zuletzt ein Buch über „Die Konstruktion des weißen Sündenbocks“ verfasst hat, verläuft so: Indem jeder Weiße automatisch zum Rassisten abgestempelt wird, versucht man sich erneut ein Fundament für die Legitimation der Judenfeindschaft zu verschaffen. Wörtlich: „Da Juden Weiße sind und alle Weißen von Geburt an Rassisten, bedeutet Antirassismus auch und vor allem Antisemit zu sein.“
Umgekehrter Rassismus
Einem solchen Denken liegt, so elaboriert sein Code auch sein mag, ein umgekehrter Rassismus zugrunde. Eine Protagonistin des identitätspolitischen Furors ist die an der University of Berkeley lehrende Philosophin Judith Butler. Sie hat sich vornehmlich in der Tradition des Poststrukturalismus sowie der Kritischen Theorie bewegt und wird seit ihrer 1990 erschienenen Arbeit über „Gender Trouble“ als Vorkämpferin der Diversität angesehen. Auf einem Teach-in hatte sie es 2006 fertiggebracht, die Hamas als soziale Bewegung zu bezeichnen, sie als „progressiv“ einzustufen und obendrein auch noch zu behaupten, sie würde „zur globalen Linken“ gehören. Das geschah zu einer Zeit, als die Hamas schon längst kein unbeflecktes Blatt mehr war und mit ihren in Israel über Jahre hinweg verübten Selbstmordattentaten dort für Angst und Schrecken gesorgt hatte.
Die für die Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises zuständige Jury, der obligatorisch auch der Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt angehört, hatte das 2012 nicht davon abhalten können, Butler als erste Frau mit einem Preis auszuzeichnen, der nach einem der bedeutendsten Antisemitismus-Kritiker benannt ist. Doch die Gescholtene, selbst jüdischer Herkunft, beeindruckte das nur wenig. Sie verteidigte nicht nur ihre Pro-Hamas-Position, sondern fuhr in ihrer verdrehten Sichtweise des palästinensisch-israelischen Konflikts in all den Jahren unverändert weiter fort. Bei einem Auftritt kürzlich in Paris insistierte sie darauf, das Massaker vom 7. Oktober als „bewaffneten Widerstand“ zu bezeichnen. Sie versuchte überdies die in der ganzen Welt verbreiteten Aufnahmen der von Hamas-Leuten verschleppten Frauen mit der Bemerkung in Zweifel zu ziehen, sie wolle erst einmal „Beweise“ dafür sehen, dass dort überhaupt Frauen zu Schaden gekommen seien. Butler trotz ihrer Pro-Hamas-Position den Adorno-Preis verliehen zu haben, war mehr als nur einem intellektuellen Dammbruch gleichgekommen.
Warum, so ist zu fragen, haben es auch zwei Repräsentanten einer Nachfolge- Generation Kritischer Theorie im Nachhinein nicht für nötig gehalten, die von ihnen mitgetragene Entscheidung zumindest zu bedauern oder sich ganz von ihr zu distanzieren? Genau das hat das Frankfurter Institut nicht verdient – nun als aktuelle Fortsetzung kritischen Denkens in Gestalt einer feministischen Form von Identitätspolitik dazustehen, die keinerlei Anstrengungen unternimmt, um sich vom anti-israelischem Terror abzugrenzen.
Zur Erinnerung: Kein anderer Theoretiker kann so wie Adorno als Philosoph des Nicht-Identischen gelten. Die gemeinsam mit Max Horkheimer verfasste „Dialektik der Aufklärung“ wird im Allgemeinen als ihr bedeutendstes Werk angesehen. Übersehen wird dabei jedoch, dass Adornos wichtigstes Werk wohl die in einem viel geringeren Maß rezipierte „Negative Dialektik“ gewesen ist. Darin hat Adorno, dessen Mitstreiter Herbert Marcuse einmal apodiktisch festgestellt hat, dass es „Identität nur auf dem Totenbett“ geben würde, den Begriff des Nichtidentischen geprägt. Er schreibt dort: „Es handelt sich um den Entwurf einer Philosophie, die nicht den Begriff der Identität von Sein und Denken voraussetzt und auch nicht in ihm terminiert, sondern die gerade das Gegenteil, also das Auseinanderweisen von Begriff und Sache, von Subjekt und Objekt, und ihre Unversöhntheit, artikulieren will.“
Mit dieser Kritik am identifizierenden Denken stellt Adorno ganz unmissverständlich klar, dass es für ihn keine Möglichkeit gibt, Kritische Theorie in irgendeiner Form für identitätsphilosophische Operationen zu missbrauchen. Wenn es jemals eine Stärke der Kritischen Theorie gegeben hat, dann war es die Ideologiekritik. Die Kritik am notwendig falschen Bewusstsein, verbunden mit einem Bewusstsein von der Schwierigkeit, ihm gesellschaftspolitisch beizukommen. Kritische Theorie lässt sich im Übrigen auch nicht als eine Gegnerin des aufklärerischen Denkens vereinnahmen. Als sie sich während des Zweiten Weltkriegs und der vom nationalsozialistischen Deutschland betriebenen Vernichtungspolitik gegenüber dem europäischen Judentum dazu veranlasst sah, Erbe und Tradition der Aufklärung zu problematisieren, geschah das aus einem historisch berechtigten Zweifel an ihrem Kontinuitätsvermögen. Die Beherrschung der Natur war im entwickelten Kapitalismus objektiv in die Herrschaft über die Naturbeherrscher umgeschlagen. Das jedenfalls war zentraler Gegenstand in den Reflexionen der „Dialektik der Aufklärung“.
Einem solch dialektischen Prozess zu folgen, bedeutete aber nicht etwa die Aufklärung selbst und ihre Kategorien über Bord zu werfen. Im Gegenteil, den „Philosophischen Fragmenten“ – wie das Werk im Untertitel mit sichtlichem Understatement genannt wurde – lag ein Programm der Rettung zugrunde, nämlich die Aufklärung über sich selbst aufzuklären. Es ging darum, die instrumentelle Vernunft der traditionellen Aufklärung in einer ‚zweiten Reflexion‘ zu korrigieren, um so ihren universalistischen Anspruch zu retten. Ihr Bestreben ging also nicht dahin, die Vernunft als solche zu verwerfen, wie das von Vertretern der Postmoderne immer wieder gefordert wurde, sondern sie historisch
aufzuheben. Diese Ausrichtung war von dem Bewusstsein bestimmt, dass sie auch weiterhin in die universalistische Tradition eingebettet bleiben müsse.
Die Menschenrechte sind unteilbar
Für den Nahostkonflikt heißt das allerdings: Es darf auch dort keinen „toten Winkel der Empathie“ geben. Nur dann, wenn wir unser Mitgefühl auch den unschuldigen Opfern im Gazastreifen, den Tausenden von ums Leben gekommenen Frauen und Kinder spenden, verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit nicht gegenüber jenen, denen wir sie seit dem 7. Oktober entgegengebracht haben – den Ermordeten wie den noch in Geiselhaft Genommenen oder immer noch Befindlichen. Für diese Haltung existiert ein nicht hintergehbarer normativer Rahmen. Er ist ausgerechnet im Gründungsjahr des Staates Israel ebenso schlicht wie unmissverständlich in Stein gemeißelt worden und lautet: Die Menschenrechte sind unteilbar – deklariert von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 und die Menschenwürde ist unantastbar – niedergelegt am 23. Mai 1949 im ersten Artikel des Grundgesetzes. Beides gilt also für alle menschlichen Wesen und ist insofern ebenfalls von jenem Universalismus geprägt, der maßgeblich für das identitätskritische Denken ist.
Lars Henrik Gass, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist ein überzeugter Universalist. Er hat sich den Verleumdungen gegenüber zur Wehr gesetzt, in Dutzenden von Interviews und Artikeln, er ist nicht eingeknickt vor den Israel-Hassern und hat die Oberhausener Filmfestspiele allen Anfeindungen zum Trotz weiter organisiert. Wir alle sind aufgerufen, ihm den Rücken zu stärken und ihm unsere Solidarität zu erweisen. Es geht darum zu verhindern, dass der Antisemitismus erneut zu einem kulturellen Code werden und sich so weiter ausbreiten kann. Es ist nicht nur eine Ehre, dass ihm hier und heute die Ernst-Cramer-Medaille verliehen wird, sondern auch eine Aufgabe. So jedenfalls die Überzeugung eines „alten weißen Mannes“ gegenüber einem nicht ganz so „alten weißen Mann“.