Nur mit ein paar Worten schuf Gott die Welt. So kennen es Christen wie Juden aus der Schöpfungsgeschichte im Alten Testament und im Tanach, der Hebräischen Bibel. Das Verbindende im Glauben und der Glaube an die Macht der Worte – das dürften auch zwei der wichtigsten Zutaten bei der Begegnung mit einer fast in Vergessenheit geratenen jüdischen Lichtgestalt Deutschlands in der von Umbrüchen geprägten Reformationszeit sein: Josel von Rosheim (1476-1545), eigentlich Josselmann oder Yoselmann (in Anlehnung an Joseph) Ben Gerschon Loans. Im Juni vor 491 Jahren hatte der Vertreter, Verteidiger und Fürsprecher der jüdischen Gemeinden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und in Polen den wohl wichtigsten Auftritt seines Lebens: als Redner und Verhandlungsführer auf dem welthistorisch bedeutsamen Reichstag zu Augsburg 1530.
Josel war bereits mitten in die Schrecknisse der Judenverfolgungen in Deutschland hineingeboren worden – und bis zu seinem Lebensende sollte sein Kampf gegen Verleumdungen, Feindseligkeiten und Gewalttaten andauern. Im ausgehenden 11. Jahrhundert hatte sich die Situation der Juden in Europa dramatisch verschlechtert – sie wurden diffamiert, ausgegrenzt, fälschlich der Hostienschändung oder des Ritualmords angeklagt und immer wieder bedroht. Die Blütezeit der aschkenasischen Juden am Rhein mit den sogenannten SchUM-Städten endete jäh und überaus blutig. Mal waren es blutrünstige Kreuzritter, mal aufgehetzte Horden bei den fürchterlichen Pest-Pogromen, dann vielleicht „nur“ neidische Nachbarn mit einer falschen Anklage der Blasphemie. Tausende Juden wurden ermordet, ganze Gemeinden ausgelöscht.
Zu Hause in Leid und Bedrängnis
Als Josels Familie 1476 vor Übergriffen durch Schweizer Söldner aus Oberehnheim (Obernai) südwestlich von Straßburg ins nordelsässische Hagenau floh, war seine Mutter vermutlich schon mit ihm schwanger. Noch im selben Jahr brachte sie Josel zur Welt. Sechs Jahre zuvor waren drei Brüder seines Großvaters (Eberlin, Elia sowie Merklin) in Endingen am Kaiserstuhl wegen eines angeblichen Ritualmordes grausam gefoltert und hingerichtet worden. Ein unbekannter Augsburger Stadtchronist nannte die drei später die „Allermächtigsten und Gelehrtesten unter den anderen Juden“.
Über Josels Kinder- und Jugendjahre wissen wir wenig, dürfen aber eine gute Erziehung und Bildung voraussetzen. Gerade im Vergleich zur christlichen Mehrheitsgesellschaft war der typische jüdische Haushalt damals geradezu ein Hort der Gelehrtheit und des kultivierten Diskurses. Bereits mit sechs Jahren verlor Josel seinen Vater, Rabbi Gerschon, und lebte dann wohl bei der Familie der Mutter.
Man darf annehmen, dass Josel sich dabei auch mit der Abhandlung „Sefer Nofet Zufim“ (Das Buch des Honigwaben-Flusses) von Judah Messer Leon, Rabbiner und Humanist aus Mantua, vertraut machte, dem „wichtigsten hebräischen Rhetoriktraktat der Renaissance, möglicherweise sogar der gesamten Geschichte der jüdischen Rhetorik“ (siehe „Jüdische Rhetorik“ von Abraham Melamed im „Historischen Wörterbuch der Rhetorik“, 2013).
Übernahme von Verantwortung
Als Erwachsener soll Josel zunächst in Mittelbergheim bei Straßburg von Handelsgeschäften und dem Geldverleih gelebt haben. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde er zusammen mit anderen jüdischen Händlern vermutlich wegen einer Münzaffäre verhaftet und kam erst Monate später wegen erwiesener Unschuld wieder frei. Nach dieser schweren Zeit siedelte er in die Reichsstadt Rosheim über und wurde 1510 zum Vorsteher der Landjudenschaft im Unterelsass (Landvogtei Hagenau) gewählt. In dieser Funktion musste er in Streitigkeiten unter Juden Recht sprechen und vertrat die jüdische Bevölkerung auch nach außen. Dabei traf er auch mit Kaiser Maximilian I. (1515 in Koblenz) und mit dem König und späteren Kaiser Karl V. (1519 in Aachen und vermutlich bereits zuvor in Spanien) zusammen, mit dem er im Laufe der Zeit eine enge und vertrauensvolle Verbindung aufbauen konnte.
Auch überregional von sich reden machte Josel 1525 zur Zeit der Bauernaufstände. Die Sendereihe „Die Juden im Mittelalter“ des SWR aus 2010 beschreibt die Geschichte so: „Auch auf die Stadt Rosheim im Elsass marschiert ein Trupp Bauern zu. Verhandlungen mit dem Stadtrat und einer Delegation des Bischofs werden abgelehnt. Doch die Bauern akzeptieren einen anderen Vermittler: einen gewissen Josel, einen Rabbiner und Geldverleiher. Josel gelingt es, Rosheim zu retten und seiner jüdischen Gemeinde ein erneutes Pogrom zu ersparen. Er festigt damit seinen Ruf als Anwalt und Beschützer der Verfolgten.“
„Josel war kein Interessenvertreter, der bei Fehlern der eigenen Seite das Auge zudrückte“, schreibt der Historiker Hellmut G. Haasis in einem Beitrag für „Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten“ (2016). „Josels Stärke“ habe darin gelegen, „auch die Juden zur Einhaltung von Pflichten“ anzuhalten.
Vor diesem Hintergrund ist Josels Wahl zum Vorsteher und aller Juden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Schtadlan, Parnas und Manhig) zu verstehen, als Rabbiner aller Juden des Reichs 1529 in Günzburg an der Donau erstmals einen gemeinsamen Vertreter bestimmten. Diese ebenso ehrenvolle wie schwierige und nicht gesicherte oder mit einem organisatorischen Unterbau versehene Stellung sollte Josel bis zu seinem Lebensende innehaben und sich unermüdlich für das Wohl der Juden im Reich und ein friedvolles Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerung einsetzen. Dabei nutze er auch seine engen Verbindungen zum Kaiserhaus. Schriftsätze und Briefe verfasste Josel in hebräischer oder deutscher Sprache.
Überzeugende Persönlichkeit
Während Josel gegenüber den Juden im Unterelsass über die sogenannte Banngewalt verfügte, musste er sich bei den übrigen Juden im Reich ganz auf seine Überzeugungskraft verlassen. „Er vertrat ihre Interessen mit hinreißender Beredsamkeit und war mit der Gabe ausgestattet, auf Menschen aller Stände in seinem Sinne einzuwirken“, so der Historiker Hans Jürgen Rieckenberg in der „Neuen Deutschen Biographie“ (1974). „Er war sein ganzes Leben hindurch immer wieder auf Reisen zum Wohl derer, die sich ihm anvertraut hatten. Er bemühte sich, die wirtschaftliche und soziale Lage der Juden des Reiches den geänderten Verhältnissen des Frühkapitalismus anzupassen. Gleichzeitig war er bestrebt, die religiösen und wirtschaftlichen Spannungen zwischen Juden und Christen zu verringern, auch auf Kosten der Juden, wenn es sein mußte.“
Der Literaturgeschichtswissenschaftler und Journalist Kurt Pinthus, der später vor den Nazis in die USA fliehen musste, nannte Josel in einem Aufsatz in den „Blättern der Jüdischen Buch-Vereinigung“ 1935 einen „bescheidenen Menschen“ und vor allem den „größten Politiker, den die Juden in Deutschland hervorgebracht haben“. Seine Begründung bringt uns auch Josels Rhetorik näher: „Die Erfolge, die dieser nüchterne, kluge, gewandte, dabei aufrechte kleine Jude aus dem Elsaß bei den Kaisern, bei Gerichten, Stadtverwaltungen, deutschen Fürsten während eines halben Jahrhunderts für die Juden erreichte, lassen sich nur erklären durch eine sachliche und zugleich magische Überzeugungskraft, die von seiner Rede, von seiner Persönlichkeit ausging.“
Inbegriff für den aristotelischen Charakterbegriff
Redemanuskripte sind nicht erhalten, aber dank einiger Quellen erhalten wir ein recht schlüssiges Bild eines umfassend und gut gebildeten, besonnen und gottergeben, aber standhaft auftretenden, stets selbstlosen und um Ausgleich bemühten Diskussionspartners und Redners, dessen Fähigkeit zu überzeugen auch in seiner Persönlichkeit und seinem verdienstvollen Leben gründete.
Aristoteles hat vermutlich an Menschen wie Josel gedacht, als er den Charakter des Redners (ethos) als eines der drei Überzeugungsmittel in der Rhetorik beschrieb. Hohe Glaubwürdigkeit habe ein Redner dann, wenn das Publikum ihn für klug, tugendhaft und wohlwollend hält – Josel wirkt hier wie ein Paradebeispiel.
Eine seiner größten Sternstunden war die Teilnahme am besagten Reichstag 1530. Der sollte ursprünglich am 8. April beginnen, wurde aber mehrfach verschoben und schließlich am 20. Juni von Kaiser Karl V. eröffnet. Unter dem Einfluss der Renaissance und des Humanismus ging es damals um den Zusammenhalt des Reichs, bedroht durch den gegen die Macht des Kaisers aufbegehrenden Adel, die Türkenkriege, die Bauernaufstände und vor allem die Reformation samt den mit ihr einhergehenden konfessionellen Streitigkeiten. In Augsburg sollten die verfeindeten Lager befriedet und im besten Fall versöhnt werden.
Dieses Vorhaben scheitert gründlich. Die protestantische Seite legt am Lech ihre Haltung dar und einigt sich schließlich auf das von Philipp Melanchthon im Auftrag des Kurfürst von Sachsen verfasste und von Martin Luther unterstützte sogenannte Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana). Es wird am 25. Juni von Melanchton selbst vorgetragen. Der Kaiser ist dabei kein neutraler Schiedsrichter, sondern steht letztlich an der Spitze der katholischen Seite. Er lässt die confessio von katholischen Theologen widerlegen (confutatio) und bestätigt die Gültigkeit des Wormser Edikts von 1521, als sich der Reichstag bereits aufzulösen beginnt. Viele Teilnehmer verlassen den Reichstag erbost vorzeitig und auch Kriegsdrohungen werden laut. Das sogenannte Konfessionelle Zeitalter bahnt sich an und die großen Religionskriege lassen sich schon erahnen.
Weit mehr als eine Fußnote
Am Rande dieser welthistorischen Ereignisse werden aber auch andere Themen von enormer Tragweite auf dem Reichstag diskutiert. Das gilt in besonderem Maße für Josel als obersten Vertreter der jüdischen Bevölkerung. Zu dieser Zeit werden Juden fast überall im Reich als Bedrohung und Widersacher der Christenheit verunglimpft, wird vor dem Besuch jüdischer Ärzte gewarnt und der Verdacht der Kollaboration mit den feindlichen Osmanen geschürt. Dazu trägt ganz wesentlich das antijüdische Buch „Der gantz judisch Glaub“ des zum Christentum konvertierten Nürnberger Rabbinersohns Antonius Margaritha bei, das später eine der Grundlagen für Luthers Hetz- und Schmähschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ werden soll. Angesichts der wüsten Vorhaltungen droht sogar die Ausweisung aller Juden aus dem Reich.
„Der Kaiser, impulsiv, gelegentlich leichtgläubig, war infolge schlimmer Vorwürfe empört über die Juden und zwang Josel, das Judentum in einer öffentlichen Disputation zu verteidigen“, beschreibt Haasis die Vorgänge. „Josel […] konnte mit eindrucksvollem Redetalent den gehässigen Konvertiten besiegen.“ Der oberste jüdische Repräsentant vermag die Anschuldigungen (am 25. Juni oder, nach anderer Quelle, am 24. Juli) vor dem Reichstag so überzeugend zu widerlegen, dass Margaritha in Kerkerhaft kommt und später aus Augsburg verbannt wird. Der Reichstag bestätigt am 12. August das Privileg König Sigismunds von 1415, das den Schutz von „Leib und Leben“ der Juden umfasst, Freizügigkeit gewährt, Zwangstaufen untersagt und eine Reihe weiterer wichtiger Rechte der Juden festschreibt. Karl V. dehnt diese Regelungen ausdrücklich auf alle Juden des Reichs aus.
Die deutsche Historikerin und Judaistin Selma Stern ging in ihrem Buch „Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.“ von 1959 detailliert auf die Situation ein. „Man verlangte von Josel, daß er sich ‚dreier Punkte wegen verantworte‘: daß die Juden Christus und das Christentum schmähten, Proselyten zu machen suchten und danach trachteten, die Obrigkeiten, denen sie unterworfen seien, zu vernichten. Josel hat in seiner bildhaften, schweren, oft klobigen Sprache, die klang, als reiße er sich mühsam jedes Wort aus seinem Herzen, seine Brüder verteidigt. Sicherlich hat er diese Verteidigung nicht nur auf Grund seiner Kenntnis der heiligen Schrift geführt, sondern auch apologetische Bücher benutzt, in denen sich die Juden seit Jahrhunderten gegen ähnliche Angriffe je und je zur Wehr gesetzt hatten. […] Wenn Margaritha behauptete, daß die Juden die Christen als ihre Feinde betrachteten, so konnte Josel aus der Bibel selber nachweisen, daß man den Fremden lieben solle wie sich selbst.“ Stern schildert Josel als „schlichten, von Gott erfüllten Mann, der mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand disputierte“. Auch die wohl tief empfundene Sympathie des Kaisers habe Josel vor dem Reichstag triumphieren lassen.
Um auch Vorwürfen des Zinswuchers und Geldbetrugs zu begegnen, lässt Josel während des Reichstags einheitliche, auffallend restriktiv gehaltene Regeln für Geldgeschäfte von Juden mit Christen in Form von zehn Artikeln vereinbaren und kann damit eine ganze Serie antijüdischer Verordnungen verhindern. Auf diese Weise schafft er bis Mitte November die Grundlage einer für alle Juden gültigen Wirtschaftsordnung und -moral, die sogenannte Ordnung. Letztlich übergeben wurde diese Ordnung dem Kaiser allerdings vermutlich erst nach dem Reichstag.
Selbstlos dem Hass entgegentreten
Aus heutiger Sicht gelang es Josel in diesen Wochen in Augsburg, die Lage der Juden in schwieriger Zeit ein wenig aufzuhellen und mit einem Hoffnungsschimmer zu versehen, das Zusammenleben von Christen und Juden deutlich zu verbessern und den mit erschreckendem Vernichtungswillen gepaarten Judenhass, der nicht zuletzt von Martin Luther befeuert wurde, zumindest für einige Zeit zu zügeln. Nur mit ein paar Worten, wenn man so will, hat Josel unzähligen Menschen das Leben gerettet.
Wir kennen zwar nicht den genauen Wortlaut der Ausführungen Josels, aber alle Quellen lassen den Schluss zu, dass er seine Argumente nach Möglichkeit der gemeinsamen Heiligen Schrift entnahm und das Verbindende im Glauben betonte. Seine zentrale Botschaft war in all den Jahren ohnehin stets dieselbe: „Obschon wir nicht eines Glaubens sind, so sind wir doch Menschen auf Erden zu wohnen.“ (1548) Dabei konnte er sich auf das jahrhundertelange, meist friedliche und für beide Seiten gedeihliche Zusammenleben in Deutschland berufen und den Kaiser zur Fortführung der Judenpolitik seiner Vorgänger mit dem Judenregal als unveräußerlichem Hoheitsrecht der Krone ermuntern. Dass Josel dabei offenbar stets vollkommen selbstlos und mit großer Demut sowie Gottergebenheit auftrat und in sich ein Werkzeug Gottes sah, verlieh seiner Argumentation noch zusätzlich Kraft.
1547 oder im Jahr darauf verfasste Josel auf Hebräisch seine Lebenserinnerungen – die ersten (sehr kurz gehaltenen) Memoiren eines deutschen Juden überhaupt. Die hebräischen Texte, die erst ins Englische („The Historical Writings of Joseph of Rosheim: Leader of Jewry in Early Modern Germany“) und dann ins Deutsche übersetzt wurden, machen uns auf eine weitere Stärke Josels aufmerksam – gewissenhafte Vor- und Nachbereitung. Als der Augsburger Reichstag 1530 verschoben wurde, wartete Josel nicht einfach nur ab, sondern suchte bereits im Vorfeld im Mai den Kontakt zu den Habsburgern. Er beschreibt das in seinen Erinnerungen so: „Im Jahr 5290 (1529/30) gab es einen großen und lautstarken Aufschrei von allen Völkern, dass die Juden in einem hochverräterischen Austausch mit den Türken stünden. Verleumdungen dieser Art kamen schließlich unseren Herrn, dem Kaiser und dem König, gepriesen seien sie, zu Ohren, worauf wir geächtet wurden und mehrere Territorien nicht mehr betreten durften. Mit Zustimmung der Judengemeinden entwarf und stellte ich ein Büchlein zusammen, das unsere Worte der Entschuldigung enthielt, und mit der Hilfe Gottes, gepriesen sei Er, legte ich es den beiden Monarchen in Innsbruck dar. Und Joseph fand Gnade vor ihren Augen, denn sie nahmen gerne unsere entschuldigenden Worte an und bestätigten all unsere früheren Privilegien.“
„Obschon wir nicht eines Glaubens sind, so sind wir doch Menschen auf Erden zu wohnen.“
Laut Reichstagsakten (vgl. „Juden als Subjekt und Objekt auf den Reichstagen Karls V.“ in „Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte“ von Eike Wolgast) rief Josel die versammelten Reichsstände auf, die Rechte der Juden zu wahren, „dan wir auch menschen; von got dem almechtigen, auf der erden zewonen, geschaffen, bei euch und mit euch zewonen und handlin“. Im Gegenzug gaben die Juden das Versprechen ab, sich „unerbrechlich stet und vest“ nach den vereinbarten Artikeln zu richten. Wegen des vorzeitigen Endes des Reichstags wurden seine Ausführungen erst im Nachgang verbreitet, vor allem über die elsässischen Obrigkeiten.
Auch nach dem für ihn so erfolgreichen Reichstag war sich Josel gewiss bewusst, dass sein Kampf zeitlebens nicht enden würde. In seinen Erinnerungen klingt das so: „Damals blieb ich mit Gottes Hilfe fest und erlangte vom Kaiser eine Verlängerung unserer Privilegien von Kaiser Sigismund. Die Ankläger wurden zum Schweigen gebracht und eine kurze Weile herrschte Frieden im Lande.“
Als es (gerade nach den judenfeindlichen Schriften Luthers) ab 1543 zu gravierenden Rechtsverstößen gegen Juden, Misshandlungen und sogar Ermordungen kam, gewährte Karl V. auf Betreiben Josels 1544 mit dem „Großen Speyrer Judenprivileg“ der jüdischen Bevölkerung umfassende Freiheiten und Sicherheiten. Umgekehrt erweist auch Josel sich immer wieder als treuer Unterstützer des Kaisers. So beschaffte er Lebensmittel zur Versorgung der kaiserlichen Armee oder warnte Karl V. 1552 vor einem Angriff des Kurfürsten Moritz von Sachsen im sogenannten Fürstenaufstand, wodurch der Kaiser der drohenden Gefangennahme in Innsbruck im letzten Moment entkommen konnte. Ob die überaus enge Bezugnahme auf den Kaiser zu jener Zeit die bestmögliche Option für die deutschen Juden war, lässt sich allerdings kaum beantworten.
Fast aussichtslos, und doch unverzichtbar
„Unermüdlich schrieb er Bittschriften oder reiste durch die Lande in diesem von Vertreibungen und Verfolgungen geprägten Jahrhundert, um das Schlimmste abzuwenden und in einen konstruktiven Dialog mit den politischen Instanzen einzutreten“, so die Historikerin Rotraud Ries, Leiterin des Kompetenzzentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken. Josel „zeichnete sich nicht nur durch ein hohes Kommunikationstalent aus, sondern verfügte auch über die notwendigen Beziehungen am Kaiserhof, die ihn nach den Maßstäben der Zeit und vor dem Hintergrund des Tiefststandes jüdischer Lebensbedingungen im Reich bemerkenswert erfolgreich machten“.
Josel wurde immer wieder das Ziel von Anfeindungen, haltlosen Anschuldigungen und Schmähungen. Luther lehnte das persönliche Gespräch mit ihm ab, obwohl Josel 1536 sogar die Mühen einer langen, beschwerlichen Reise auf sich nahm und nach Wittenberg kam. „Der Reformator versagte den Juden seiner Zeit die Solidarität“, so der Theologe und Judaist Christian Wiese. Und weiter: „Josel widersprach dezidiert den Anschauungen Luthers und setzte der Reformation selbstbewusst das religiöse Selbstverständnis des zeitgenössischen Judentums entgegen.“
Viele Übergriffe und furchtbares Leid konnte Josel trotz unentwegtem Einsatz nicht verhindern. In dem Moment, in dem er seinen letzten Schriftsatz für den Magistrat von Hagenau verfasste – laut Haasis „sein politisches Testament“ – „tobte in der Rosheimer Judengasse ein Pogrom“. Und doch wirkte seine segensreiche Politik weit über seinen Tod hinaus nach (vermutlich starb er Anfang April 1554 in Rosheim): Mehrfach wurden die Rechte der Juden bestätigt (zum Beispiel 1562 und 1566), und noch die von Kaiser Matthias erzwungene Rückkehr der aus der Reichsstadt Frankfurt vertriebenen Juden 1614, also 60 Jahre später, wird auf Josels Wirken zurückgeführt.
„Josels oft ebenso couragiertes wie erfolgreiches Wirken […] in unermüdlicher Vertretung der Interessen seiner vielfach bedrängten und verfolgten Glaubensgenossen sichert ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern, auch wenn diesbezüglich noch Nachholbedarf besteht“, so das Fazit des Mittelalterspezialisten Gerd Mentgen in „Josel von Rosheim und die Juden des Elsass im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit“.
In einem Vortrag für die Gesellschaft für die Geschichte der Israeliten in Elsass-Lothringen mahnte deren Vorsitzender, Rabbi Moses Ginsburger, 1913, also fast 360 Jahre nach Josels Tod: „Niemals wollen wir vergessen, dass es hauptsächlich Josel von Rosheim zu verdanken ist. Wenn unserer Vorfahren im Elsaß und in Deutschland von dem Schicksale ihrer Brüder in Spanien und Portugal verschont blieben“. Es ist schmerzhaft zu wissen, dass nur 20 Jahre später die Nationalsozialisten an die Macht kommen und den Holocaust in Gang setzen sollten.
Die passenden Schlussworte für uns liefert eine Passage aus der Einleitung „Rabbi Josel von Rosheim: ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland im Reformationszeitalter“ von Ludwig Feilchenfeld aus dem Jahr 1898. Dank Josel „können wir die höchst auffallende und wunderbare Wahrnehmung machen, wie in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts ein Jude des Unterelsass diesen Mut der Meinungsäußerung gefunden hat, wie Josel von Rosheim es gewagt hat, auf Grund seines guten Rechtes einen ganz ungleichen, beinahe aussichtslosen, und doch immer in den Schranken des Gesetzes sich haltenden Kampf gegen alle Widersacher seiner Glaubensgenossen zu unternehmen, wie er mit unvergleichlicher Energie alle seinen Juden auf Schritt und Tritt in den Weg gelegten Hindernisse beseitigt hat, ohne Furcht vor Körperkraft, vor irdischer Macht, vor geistiger Bedeutung. Sehen wir […], wie er seiner grossen, schweren Aufgabe gerecht geworden ist!“ Selten zuvor fand ich derart pathetische Worte angebrachter als in diesem Fall.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Ein beeindruckender Beitrag über eine wahrlich beeindruckende Persönlichkeit. Ich hatte von Rabbi Josel von Rosheim noch nie gehört oder gelesen. Es ist gut, dass der VRdS an diesen Gelehrten und Diplomaten sowie seine Rhetorik, sein Wirken und sein Andenken erinnert.
Lehrreich und gut erzählt! Danke für den guten Beitrag, der einmal mehr belegt, welchen Einfluss jüdische Gelehrte in Deutschland hatten und haben sollten.