Joe Bidens vorgezogene Inaugurationsrede

Quelle pexels.com, © Sean Valentine

Rituale sind für eine Gesellschaft lebenswichtig. Sie stehen für Verlässlichkeit. Zu diesen Ritualen gehören in den USA erbitterte Wahlkämpfe, in denen sich die Kontrahenten nichts schenken, Gratulation des Unterlegenen und das Angebot, einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten. Und nicht zuletzt gehört dazu die Inaugurationsrede, in der der neue Präsident bei seiner Amtseinführung die im Wahlkampf aufgerissenen Gräben wieder schließt. So war es bis zum 20. Januar 2017. An diesem Tag hielt der damalige Präsident eine Rede, die auf alle Zeichen der Versöhnung verzichtete: Keine anerkennenden Worte an den scheidenden Präsidenten, keine respektvollen Worte an die unterlegene Gegenkandidatin, keine einenden Worte an die von einem heftigen Wahlkampf ebenso gespaltene wie aufgewühlte Nation. Stattdessen Diskreditierung und Verhöhnung der politischen Klasse und ihrer Institutionen.

 

Dabei sind diese Reden in der Regel eine Hohe Messe, mit der die Verfassung gefeiert wird. Eine Verfassung, die in ihrer Präambel festschreibt:

„Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“

„Die Ära der Verteufelung muss vorbei sein.“

Mit der Ruhe im Inneren ist es momentan nicht weit her. Noch immer wütet der abgewählte Präsident auf Twitter, noch immer bestimmt Aggression den Sound der politischen Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der beiden Lager. Und genau da setzte der gewählte Präsident Joe Biden bei seiner „Acception-Speech“ an. Biden, der sich wegen des Auszählungsmarathons erst Tage nach dem Wahltag an die Amerikaner wandte, wurde von der designierten Vizepräsidentin Kamala Harris mit folgenden Worten anmoderiert: „Sie haben Anstand, Wissenschaft und Wahrheit gewählt. Sie haben Joe Biden gewählt!“ Er sei ein Heiler, ein Einiger.

Und als solcher trat er auf, indem er eine Rede hielt, die – obgleich kürzer – wie eine vorgezogene Inaugurationsrede anmutete. „Ich verspreche ein Präsident zu sein, der nicht spalten, sondern einen will. Der nicht blaue oder rote Staaten sieht, sondern die Vereinigten Staaten“, so die zentrale Botschaft, deren Sinn zum Leitmotiv der Rede wurde. Alle Vorgänger haben stets betont, Präsident aller Amerikaner sein zu wollen, doch in diesem Jahr erscheint die Botschaft nachdrücklicher denn je. Biden geht weiter: „Die Ära der Verteufelung muss vorbei sein.“ Politische Gegner seien keine Feinde, sie seien Amerikaner. In dieser aufgewühlten Situation, die durch die bislang nicht belegten Behauptungen des abgewählten Präsidenten, es habe massiven Wahlbetrug gegeben, noch befeuert wurde, wandte sich Biden auf sehr persönliche Weise an die Anhänger seines Widersachers: „Ich verstehe eure Enttäuschung. Ich habe selbst ein paar Mal verloren, aber lasst uns jetzt gegenseitig eine Chance geben.“

Biden zeigt Demut im Sieg

Indem sich Biden als jemanden inszeniert, der in seinem Leben mehrfach unterlegen ist, aber dennoch das höchste Amt errungen hat, vermittelt er zum einen Demut, zum anderen das Gefühl, dass Verlieren kein Makel ist. Er streckt die Hand aus, obwohl er weiß, dass es – wenn es überhaupt gelingt – noch lange dauern wird, bis das Land zwar nicht in seiner politischen Grundausrichtung, wohl aber im demokratischen Grundverständnis wieder geeint ist. Vielleicht deshalb erinnerte Biden an die Versprechen der Verfassung und an große Vorgänger:

„Wir müssen das Versprechen des Landes für alle Menschen Wirklichkeit werden lassen – unabhängig von ihrer Rasse, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem Glauben, ihrer Identität oder ihrer Behinderung.

Amerika wurde schon immer durch Wendepunkte geprägt – durch Momente in der Zeit, in denen wir harte Entscheidungen darüber getroffen haben, wer wir sind und was wir sein wollen.

Lincoln im Jahre 1860 – kommend, um die Union zu retten.

F.D.R. im Jahr 1932 – einem belagerten Land einen New Deal versprechend.

J.F.K. 1960 – versprach einen New Frontier.

Und vor 12 Jahren – als Barack Obama Geschichte schrieb – und uns sagte: ,Ja, wir können es‘.“

Die Latte für die Rede am 20. Januar liegt hoch

Bidens Rede hatte alles: Demut, Dank und Darstellung dessen, was von ihm zu erwarten ist. Sie hatte, was sein Vorgänger in dessen Inaugurationsrede vor vier Jahren hatte vermissen lassen. Eine große Rede, die seine Redenschreiber jedoch vor eine Herausforderung stellt: Wie kann dies in seiner Rede zur Amtseinführung getoppt werden? Biden hat die Latte dafür selbst sehr hochgelegt. Entscheidend wird sein, trotz der Verweigerungshaltung der abgewählten Administration nicht nachzutreten. Er muss der Versuchung widerstehen, mit Trump abzurechnen, wie dieser es mit dem „Establishment“ getan hatte. Wer die Moralkeule schwingt, muss saubere Hände haben.

Und Trump? Auch dessen Redenschreiber stehen vor einer Herausforderung: Die Rede zu schreiben, die es dem Abgewählten ermöglicht, halbwegs gesichtswahrend und glaubwürdig dessen Niederlage einzugestehen. Das ist eine sehr schwere Aufgabe. Aber vielleicht leichter, als ihn davon zu überzeugen, dies wirklich zu tun.

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