Ivan Dzjuba: Hass und Verrohung entgegentreten

Der ukrainische Schriftsteller Ivan Dzjuba hielt am 29. September 1966 in Babyn Jar eine Gedenkrede, die ihm den Vorwurf einbrachte, er verunglimpfe die sowjetische Wirklichkeit. Das Foto stammt aus seiner KGB-Strafakte von 1972.

Die Vernichtung der europäischen Juden wird in unserem kollektiven Gedächtnis mit Vernichtungslagern wie Auschwitz und Treblinka verbunden. Weniger präsent ist die Erinnerung an die „Shoah durch Kugeln“, verübt durch deutsche Einsatzgruppen im besetzten Osteuropa direkt an den Wohnorten der Juden. Das größte Einzelmassaker der Shoah verübten die Deutschen 1941 in Babyn Jar, einer Schlucht in Kiew. Heute ist Babyn Jar eine Gedenkstätte innerhalb eines großen Parks. In die Schlagzeilen kam sie am 1. März 2022, weil kurz nach Beginn von Putins Angriffskrieg eine russische Rakete das Gelände getroffen hatte – ein halbes Jahr, nachdem die Präsidenten der Ukraine, Israels und Deutschlands im Rahmen einer Gedenkveranstaltung an die nahezu 34.000 Kiewer Juden erinnerten, die dort vor 80 Jahren ermordet worden waren. Als die Ukraine noch Teil der Sowjetunion war, versammelten sich Angehörige der Opfer bereits in den 1960er Jahren in Babyn Jar zum Gedenken. Am 29. September 1966 nahmen daran erstmals auch nichtjüdische Intellektuelle teil, darunter der ukrainische Schriftsteller und Dissident Ivan Dzjuba.

1966 gab es in Babyn Jar noch kein Denkmal. Offiziell wurde von „friedlichen sowjetischen Bürgern“, aber nicht von Juden gesprochen, die die deutschen Besatzer ermordet hatten. Jüdische Gedenkveranstaltungen wurden in der Sowjetunion der Nachkriegszeit regelmäßig – auch unter Anwendung von Gewalt – aufgelöst. Trotzdem versammelten sich 25 Jahre nach dem Massaker, am 29. September 1966, in Babyn Jar in Kiew viele hundert Menschen. Sie gedachten der 33 771 Juden, die dort laut Bericht des deutschen Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C 25 am 29. und 30. September 1941 von eben diesem Kommando erschossen worden waren. So genau diese Zahl erscheint, waren es noch weit mehr Opfer, weil die Deutschen Kinder unter drei Jahren nicht mitgezählt haben.

Die Menschen, die sich 1966 dort zum Gedenken versammelten, hatte niemand dorthin beordert, und niemand hatte es ihnen erlaubt; sie kamen von sich aus, in Trauer um ihre Angehörigen, ihre Freunde und Bekannten. Das Besondere an jenem Herbsttag 1966 war, dass auch ukrainische Intellektuelle kamen, um Anteil zu nehmen. Einer von ihnen war Ivan Dzjuba (1931-2022). Mitten in der Menge hielt er eine Rede, die den Impuls zu einem neuen Verhältnis zwischen Juden und Ukrainern in der Ukrainischen Sowjetrepublik und darüber hinaus gab.

Reden gegen Unwahrheit und Unfreiheit

Die aus dem Stegreif gehaltene Rede war ein Meisterwerk. Wie oft wird in Gedenkreden darauf verwiesen, dass Worte Leid nicht fassen könnten und dass man eigentlich schweigen müsse angesichts der ungeheuerlichen Verbrechen? Auch Dzjuba tat dies, aber er beließ es nicht bei dem Paradoxon, Schweigen gutzuheißen und dennoch zu reden, er löste es vielmehr auf: „Wenn jedoch längst noch nicht alles, wenn noch gar nichts gesagt ist, dann ist das Schweigen ein Komplize der Unwahrheit und der Unfreiheit. Deshalb reden wir und müssen reden, dort, wo es erlaubt ist und dort, wo es verboten ist.“ Und er verortet sich selbst: „Ich spreche zu euch, die ihr Juden seid, als Ukrainer, als Angehöriger der ukrainischen Nation, der ich mit Stolz angehöre.“ Um schließlich den Horizont des Gedenkens abzustecken: „Babyn Jar ist eine Tragödie der gesamten Menschheit, aber sie hat sich auf ukrainischem Boden ereignet. Und deshalb dürfen die Ukrainer sie genauso wenig vergessen wie die Juden. Diese Tragödie hat der Faschismus über uns gebracht. Der Faschismus beginnt mit der Herabsetzung von Menschen und endet mit ihrer Vernichtung.“

Am 28. September 1941 wurden die Juden Kiews aufgefordert, sich in der Nähe von Babyn Jar einzufinden. Ihnen wurde gesagt, sie sollten umgesiedelt werden und ihren Besitz mitnehmen, doch tatsächlich wurden sie erschossen. Noch Tage nach dem Massenmord durchsuchten die deutschen Täter die vorher abgelegte Kleidung der Ermordeten nach Wertsachen. Foto: Hamburger Institut für Sozialforschung
Kiew 1966: 25 Jahre nach dem Massaker versammelten sich Angehörige der Opfer in Babyn Jar, um der Ermordeten zu gedenken. Foto: PD
80 Jahre danach: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gedenkt am 29. September 2021 in Babyn Jar der Opfer. Foto: Ukrainian Presidential Press Office

Ukrainer und Juden gemeinsam

Dzjuba rief dazu auf, den Antisemitismus zu bekämpfen, der in der Sowjetunion im Gewand des Antizionismus daherkam, und einander solidarisch zu unterstützen. Ukrainer und Juden sollten sich jeweils ihrer eigenen Kultur bewusst werden, um einander in Respekt zu begegnen. Als Kronzeugen nannte er jüdische Geistesgrößen wie den jiddischen Schriftsteller Scholem Alechem und den Publizisten Vladimir Jabotinski, die ihm viel bedeuteten, ebenso wie ukrainische Schriftsteller, die sich der jüdischen Sache annahmen. Die Würdigung jüdischer Intellektueller beeindruckte viele von Dzjubas Zuhörern – sie waren erstaunt, denn solche Töne kannten sie nicht, und fühlten sich von ihm wirklich verstanden.

„Mit unserem ganzen Leben müssen wir dem oberflächlich zivilisierten Hass und der Verrohung der Gesellschaft entgegentreten. Wir sind es der Menschheit schuldig.“

Dzjubas Rede in Babyn Jar änderte die gegenseitige Wahrnehmung und das Miteinander von Ukrainern und Juden nachhaltig. Noch als politische Gefangene halfen Ukrainer und Juden einander; gemeinsam verfassten sie Texte, die sie aus dem Lager schmuggelten, und gemeinsam protestierten sie gegen Willkür im Haftalltag.

Die Rede endet mit einem Appell: „Mit unserem ganzen Leben müssen wir dem oberflächlich zivilisierten Hass und der Verrohung der Gesellschaft entgegentreten. Wir sind es den Millionen von Opfern des Despotismus schuldig. Wir sind es der Menschheit schuldig.“

Der Preis des Mutes

War es schon mutig, eine solche Rede zu halten, so war es noch mutiger, sie hinterher aufzuschreiben. Das tat Dzjuba und gab den Text in den Samisdat (Selbstverlag). Im Samisdat wurden Texte immer wieder auf der Schreibmaschine abgetippt und die mittels Kohlepapier hergestellten Durchschläge verteilt. Auf diese Weise verbreiteten Dissidenten ihre Ideen an der offiziellen Zensur vorbei – ihre Leserschaft reichte dabei weit über die eigenen Kreise hinaus. So stellten sie die Öffentlichkeit her, deren Fehlen Dzjuba in seiner Rede beklagt hatte. Ivan Dzjubas Babyn-Jar-Rede war einer der populärsten Samisdat-Texte jener Zeit in der Ukraine.  Sie wurde Gegenstand von Strafverfahren, wenn sie bei Hausdurchsuchungen gefunden worden war. Als Ivan Dzjuba 1972 verhaftet wurde, hielt ihm der Untersuchungsrichter auch diesen Text vor: Er verunglimpfe die sowjetische Wirklichkeit. 1973 wurde Dzjuba zu fünf Jahren Haft und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Ernsthaft erkrankt bat er um Begnadigung und kam um den Preis einer öffentlichen Selbstbezichtigung frei. 1992 bis 1994 war Ivan Dzjuba Kulturminister der unabhängigen Ukraine. Am 22. Februar 2022 ist er in Kiew gestorben, zwei Tage vor Putins Angriff auf die Ukraine.

Wir danken der Redaktion der Zeitschrift Osteuropa, die uns den Redetext in deutscher Übersetzung zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt hat. Wir empfehlen das gesamte Heft 1-2/2021 "Babyn Jar. Der Ort, die Tat und die Erinnerung", in dem Sie sehr lesenswerte Beiträge über das historische Geschehen von Babyn Jar, dessen juristische Aufarbeitung sowie über die dazugehörende Gedenk- und Erinnerungskultur finden. Die besondere Bedeutung der Rede von Ivan Dzjuba hat Yohanan Petrovsky-Stern analysiert. 

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Uta Gerlant

https://vrds.de/ghostportraits/uta-gerlant/

Uta Gerlant ist kooptiertes Mitglied im Präsidium des VRdS.

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Jacqueline Schäfer
    8. Juli 2022 23:15

    Großartig. Fundiert und ergreifend. Danke für diesen Beitrag.

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