Ist unsere Gedenkkultur wirklich auf der Höhe der Zeit?

Dr. Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, bei der Veranstaltung in Schloss Bellevue zum 9. November. Foto: Bundespräsidialamt / Liesa Johanssen

Es geht schon mit dem Verb „erinnern“ los. „Wie erinnern wir den 9. November?“ hieß die Tagung, zu der der Bundespräsident heute ins Schloss Bellevue geladen hatte. Also, ich erinnere mich an den 9. November 1989. Reflexiv: ich – mich. Vom 9. November 1938 erzählte mir mein Vater – ich lebte noch nicht und kann mich folglich nicht daran erinnern. Ebenso wenig an weiter zurückliegende Daten wie 1918. Künftig werde ich mich an den heutigen 9. November 2022 erinnern als den Tag, an dem Werner Schulz im Schloss Bellevue starb, weshalb die dortige Veranstaltung abgebrochen wurde. Werner Schulz, ein leidenschaftlicher Demokrat, Ostdeutscher mit europäischem Horizont.

Im Sich-Erinnern liegt nur das umschlossen, was wir selber erlebt haben. Geht es, anstatt um Erinnern, nicht vielmehr um Gedenken? Immerhin handelt es sich um einen Gedenk-, nicht um einen Erinnerungs-Tag. Statt um selbst Erlebtes und dessen Vergegenwärtigung geht es um die öffentliche Verständigung über gemeinsame Bezugspunkte. 

Der Bundespräsident sagte heute: „An der Art und Weise, wie wir Deutsche unseren 9. November in Erinnerung halten, entscheidet sich unsere Identität.“ Ja, und auch daran, mit wem wir es tun. Verharren wir in „unserem“ deutschen Diskurs, oder bringen wir ihn in Austausch mit eingewanderten Geschichten? Auch polnische, kolumbianische, tunesische, türkische und südkoreanische Erfahrungen aus Diktatur und Demokratisierung sind in Deutschland anwesend – warum interessieren sie uns so wenig? Was haben sie uns zum 9. November zu sagen, die hier leben und sich damit auseinandersetzen? Ist unsere Gedenkkultur wirklich auf der Höhe der Zeit? Oder ist sie – inmitten der Einwanderungsgesellschaft – eine exklusive Veranstaltung? Eine andere Merkwürdigkeit fiel beim Blick auf die Liste der eingeladenen Rednerinnen und Redner auf: Wo waren die Protagonisten aus den Gedenkstätten? Sie prägen ja Gedenkalltag – ist ihre in der Praxis gewonnene und angewandte Expertise verzichtbar?  

Gedenken kann Trauer, Scham und Schmerz sein oder Freude. Wenn es gut geht, beinhaltet es Reflexion, Deutung und immer wieder Neubewertung. Oft jedoch erleben wir bei Gedenkveranstaltungen Floskeln, wohlfeile Worte, Selbstgefälligkeit. Diese aber tragen nichts bei zur Gegenwartsbewältigung, die Gedenken immer auch sein sollte. Da ist es schon eine gewaltige Verdrängungsleistung, das Heute völlig auszusparen; in einem Gedenkdiskurs, den wir ja von heute aus und zukunftsgewandt führen, wie immer wieder betont wird.

Und die ganze Straße hat zugeschaut

Allein Josef Schuster, der Präsident des Zentralrates der Juden, erwähnte heute im Bellevue explizit den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. „Und die ganze Straße hat zugeschaut“, zitierte er eindrücklich aus dem Roman „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz, in dem es um die Demütigung und Verfolgung deutscher Juden in den Tagen um den 9. November 1938 geht. Und wir? Sehen das Sterben in der Ukraine und reden über Selbstvergewisserung; über Gedenken als „Zentrum unseres Selbstverständnisses“. 

Vielleicht liegt darin eine Überfrachtung des Gedenkens und zugleich ein Problem: Die Selbstvergewisserung auch durch gelungenes Gedenken macht uns noch nicht zu zukunftsfähigen Menschen. Nicht einmal die Einigung über gemeinsame Werte vermag dies zu leisten. Sie sind nur Fundamente, von denen aus wir starten können. Denn um zukunftsfähig zu sein, benötigen wir ein Bewusstsein dessen, dass diese Werte nicht von allein gedeihen. Wir brauchen eine Verständigung darüber, was wir tun wollen, um unter verschiedenen Umständen, die nicht alle nur von uns abhängen, für diese Werte einzustehen. Deshalb wirkt ein bloßes „Nie wieder!“ so hilflos, weil es die Frage nach sich zieht: „Aber wie?“

Gewalt wurde eingeübt und angewöhnt

Und doch gab es einiges mitzunehmen aus den Impulsvorträgen, die vor dem Abbruch der Veranstaltung gehalten wurden: Robert Gerwarth mahnte an, die demokratische Revolution von 1918 als erste Revolution in einem hochentwickelten Industriestaat nicht gering zu schätzen und im internationalen Vergleich zu sehen. Immerhin habe die erste deutsche Demokratie 14 Jahre bestanden und viele Anfeindungen erfolgreich abgewehrt. Christoph Kreutzmüller führte eindrücklich vor, dass es sich bei den Novemberpogromen 1938 um eine „Scherbenwoche“ handelte, nicht um einen einzelnen Tag. Er zeigte, wie die Übergriffe auf Juden in Deutschland von 34 im Jahr 1930 auf 2.416 im Jahr 1938 anstiegen: „Die Gewalt wurde eingeübt und angewöhnt.“ Ausdrücklich plädierte er dafür, sich aus den Fängen des sattsam Bekannten und Floskelhaften zu befreien, neue Aspekte zu diskutieren und eventuell auch wieder zu verwerfen. Ilko-Sascha Kowalczuk betonte, die Mauer sei nicht gefallen oder einfach geöffnet worden, sondern von Menschen aktiv durchbrochen worden. Auch er mahnte wie Gerwarth die europäische Perspektive an – von Polens Solidarność 1980 über Ungarns Grenzöffnung im Sommer 1989 bis hin zur Revolution im Herbst 1989 in der DDR. Und führte in einem rasanten, faktenreichen Vortrag vor, wie lange im Voraus kalkuliert die von Schabowski am Abend des 9.  November 1989 als Versprecher gemimte „Reiseerleichterung“ war. Kowalczuk sprach sich dezidiert für den 9. Oktober als Gedenktag für die DDR-Revolution aus, als in Leipzig der Staat vor dem Volk kapitulierte. Der 9. November solle allein dem Gedenken an die Opfer der Shoa vorbehalten sein.

Gedenken heißt nicht Flucht ins Gestern, sondern das Vergangene in Beziehung zur Gegenwart zu setzen

Wie eine gelungene Gedenkrede angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, angesichts der Herausforderung unseres Gewissens durch ernstzunehmende aktuelle Probleme aussehen kann, führte Salomon Korn heute eindrucksvoll in der Frankfurter Jüdischen Gemeinde vor. Denn Gedenken heißt nicht Flucht ins Gestern, sondern das Vergangene in Beziehung zur Gegenwart zu setzen: die Opfer vergangener Gewalt zu würdigen durch solidarisches Handeln für die Opfer von Unrecht und Gewalt heute. Dass einige der ukrainischen Opfer des russischen Angriffskrieges bereits Opfer des deutschen Vernichtungskrieges vor 80 Jahren waren, das rief Salomon Korn heute mit seiner Gedenkrede ins Bewusstsein, in der er an Boris Romantschenko erinnerte: Der sechsundneunzigjährige ehemalige KZ-Zwangsarbeiter und Vizepräsident des Internationalen Buchenwald-Komitees starb am 18. März 2022, als eine russische Bombe sein Wohnhaus am Stadtrand von Charkiw zerstörte.

Die Tagung „Wie erinnern wir den 9. November?“, eine gemeinsame Veranstaltung des Bundespräsidenten und des Zentralrates der Juden in Deutschland, fand am 9. November 2022 in Schloss Bellevue statt. Sie wurde bis zum Abbruch live gestreamt. Die Aufzeichnung kann hier abgerufen werden.

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