Ich kann mir die Welt ohne Israel nicht vorstellen

Die Nobelpreisträgerin Herta Müller war Gastrednerin beim „October 7 Forum“ in der Royal Academy of Fine Arts in Stockholm. Foto: Judisk kultur i Sverige

Es war die wohl aufwühlendste und aufsehenerregendste Rede nach dem 7. Oktober. Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller sprach auf der Veranstaltung »The October 7 Forum« in Stockholm Klartext über den Angriff der Hamas auf Israel und sorgte damit weltweit für Schlagzeilen. Die Rede mit dem Titel „Ich kann mir eine Welt ohne Israel nicht vorstellen“ – ein Zitat von Paul Celan – werde wahrscheinlich einmal als das „J’accuse“ unserer Zeit gelten, schrieb die ZEIT und verglich sie mit dem legendären Offenen Brief des Schriftstellers Émile Zola an den französischen Präsidenten anlässlich der Dreyfus-Affäre im 19. Jahrhundert. Und in der Tat: Die Rede war ein Weckruf inmitten eines Krieges, der auch im Westen eine antijüdische Stimmung entfachte, wie man sie nach der Nazizeit nicht mehr für möglich gehalten hatte. Wir veröffentlichen den Redetext hier in einer von Herta Müller redigierten Fassung.

In den meisten Erzählungen über den Krieg in Gaza beginnt der Krieg nicht dort, wo er begonnen hat. Der Krieg begann nämlich nicht in Gaza. Der Krieg begann am 7. Oktober, an Jom Kippur, genau 50 Jahre nach dem Überfall Ägyptens und Syriens auf Israel. Palästinensische Hamas-Terroristen verübten ein unvorstellbares Massaker in Israel. Sie filmten sich dabei als Helden und feierten ihr Blutbad. Ihre Siegesfeiern setzten sich zu Hause in Gaza fort, wohin die Terroristen schwer misshandelte Geiseln schleppten und sie der jubelnden palästinensischen Bevölkerung als Kriegsbeute präsentierten. Dieser makabre Jubel verlängerte sich bis nach Berlin. Im Stadtteil Neukölln wurde auf Straßen getanzt und die Palästinenserorganisation Samidoun verteilte Süßigkeiten. Das Internet brummte voller glücklicher Kommentare.

Archaischer Schrecken

Durch das Massaker starben über 1200 Menschen. Nach Folter, Verstümmelungen, Vergewaltigungen wurden 239 Personen entführt. Dieses Massaker der Hamas ist ein totales Entgleisen aus der Zivilisation. In diesem Blutrausch sitzt ein archaischer Schrecken, den ich in der heutigen Zeit nicht mehr für möglich hielt. Dieses Massaker hat das Muster des Auslöschens durch Pogrome, ein Muster das die Juden seit Jahrhunderten kennen. Deshalb hat es das ganze Land traumatisiert, weil man sich durch die Gründung des Staates Israel vor solchen Pogromen schützen wollte. Und sich bis zum 7. Oktober auch geschützt wähnte. Obwohl dem Staat Israel die Hamas seit 1987 im Nacken sitzt. In der Gründungs-Charta der Hamas stand schon damals deutlich: die Vernichtung der Juden sei das Ziel und „der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch“. Auch wenn es seither zu Änderungen in dieser Charta gekommen ist, hat sich, wie man sieht, nichts daran geändert: Die Vernichtung der Juden und die Zerstörung Israels sind weiterhin Ziel und Wunsch der Hamas. Das ist genauso wie im Iran. Denn auch in der islamischen Republik Iran ist die Vernichtung der Juden seit ihrer Gründung, also seit 1979 Staatsdoktrin.

Wenn man über den Terror der Hamas spricht, müsste man eigentlich immer auch den Iran dazurechnen. Denn es sind die gleichen Grundsätze, weshalb der große Bruder Iran den kleinen Bruder Hamas finanziert, bewaffnet und zu seinem Handlanger macht. Beide sind gnadenlose Diktaturen. Und man weiß, dass alle Diktatoren sich um so mehr radikalisieren, je länger sie herrschen. Die Regierung des Iran besteht heute ausschließlich aus Hardlinern. Der Staat der Mullahs mit seinen Revolutionsgarden ist eine skrupellose expandierende Militärdiktatur. Das Religiöse ist nichts weiter als Camouflage. Der politische Islam bedeutet Menschenverachtung, öffentliche Auspeitschungen, Todesurteile und Hinrichtungen im Namen Gottes. Der Iran ist kriegsbesessen, heuchelt aber gleichzeitig, dass er keinerlei Atomwaffen baue. Denn der Gründer des sogenannten Gottesstaates, Ayatollah Chomeini, erließ ein religiöses Dekret, eine Fatwa, nach der Atomwaffen unislamisch seien.

Dabei wurde schon 2002 von internationalen Inspektoren ein klandestines Atomwaffenprogramm des Iran nachgewiesen. Für die Entwicklung der Bombe wurde ein Russe angeheuert. Der Experte aus der sowjetischen Atomwaffenforschung hat jahrelang im Iran gearbeitet. Es scheint so, als würde der Iran die atomare Abschreckung nach dem Beispiel Nordkoreas anstreben – und das ist eine gruselige Vorstellung. Vor allem für Israel, aber auch für die ganze Welt.

Die Kriegsbesessenheit der Mullahs und der Hamas ist so dominant, dass sie – wenn es um die Vernichtung der Juden geht – selbst den religiösen Graben zwischen Schiiten und Sunniten überspringt. Der Kriegsbesessenheit wird alles andere untergeordnet. Die Bevölkerung wird bewusst in Armut gehalten, und gleichzeitig steigt der Reichtum des Führungsclans der Hamas ins Unermessliche – in Katar soll Ismael Haniye über Milliarden verfügen. Und die Menschenverachtung ist grenzenlos. Für die Bevölkerung bleibt fast nichts übrig außer dem Märtyrertod. Militär plus Religion als lückenlose Überwachung. Für abweichende Meinungen innerhalb der palästinensischen Politik gibt es in Gaza im wahrsten Sinn des Wortes keinen Millimeter Platz.

Israel braucht seine Waffen, um seine Bevölkerung zu schützen. Und die Hamas braucht ihre Bevölkerung, um ihre Waffen zu schützen.

Mit unglaublicher Brutalität hat die Hamas alle anderen politischen Strömungen aus dem Gazastreifen verdrängt. Nach dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen 2007, wurden Fatah-Mitglieder zur Abschreckung von einem 15-stöckigen Hochhaus geworfen. So hat die Hamas den ganzen Gazastreifen für sich gekapert und eine seither unangefochtene Diktatur errichtet. Unangefochten, weil keiner, der sie in Frage stellt, lange lebt. Statt eines sozialen Netzes für die Bevölkerung hat die Hamas ein Tunnelnetz unter den Fußsohlen der Palästinenser gebaut. Sogar unter Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten, die von der internationalen Gemeinschaft finanziert werden. Gaza ist eine einzige Militärkaserne, ein deep state des Judenhasses unter der Erde. Lückenlos und dennoch unsichtbar. Im Iran gibt es die Redewendung: Israel braucht seine Waffen, um seine Bevölkerung zu schützen. Und die Hamas braucht ihre Bevölkerung, um ihre Waffen zu schützen.

Diese Redewendung ist die kürzeste Beschreibung des Dilemmas, dass man in Gaza das Zivile nicht vom Militärischen trennen kann. Und das gilt nicht nur für die Gebäude, sondern auch für das Personal der Gebäude. In diese Falle wurde die israelische Armee bei ihrer Antwort auf den 7. Oktober gezwungen. Nicht gelockt, sondern gezwungen. Gezwungen, sich zu verteidigen und sich durch die Zerstörung der Infrastruktur mit all den zivilen Opfern schuldig zu machen. Und genau dieses Unvermeidliche wollte und nutzt die Hamas. Seither führt sie Regie über die Nachrichten, die in die Welt gehen. Der Anblick des Leids verstört uns täglich. Aber kein Kriegsreporter kann in Gaza unabhängig arbeiten. Die Hamas steuert die Auswahl der Bilder und orchestriert unsere Gefühle. Unsere Gefühle sind ihre stärkste Waffe gegen Israel. Und es gelingt ihr durch die Auswahl des Bildmaterials sogar, sich als einziger Verteidiger der Palästinenser zu inszenieren. Dieses zynische Kalkül ist aufgegangen.

Ganz normale Männer

Ich muss seit dem 7. Oktober immer wieder an ein Buch über die Nazizeit denken, an das Buch „Ganz normale Männer“ von Christopher R. Browning. Er beschreibt die Auslöschung jüdischer Dörfer in Polen durch das Reserve-Polizeibataillon 110, als die großen Gaskammern und die Krematorien in Auschwitz noch nicht existierten. Es war wie beim Blutrausch der Hamas-Terroristen auf dem Musikfestival und in den Kibbuzim. An nur einem Tag im Juli 1942 wurden die 1500 jüdischen Bewohner des Dorfes Józefów hingemetzelt. Kinder und Säuglinge wurden vor den Häusern auf der Straße erschossen, Alte und Kranke in ihren Betten. Alle anderen wurden in den Wald getrieben, mussten sich dort ausziehen, nackt auf dem Boden kriechen. Sie wurden verhöhnt und gequält, dann erschossen und liegen gelassen in einem blutigen Wald. Das Morden kippte ins Perverse. Das Buch heißt „Ganz normale Männer“, weil dieses Reserve-Polizeibataillon nicht aus SS-Männern oder Wehrmachtssoldaten bestand, sondern aus Zivilisten, die als Soldaten nicht mehr in Frage kamen, weil sie zu alt waren. Sie kamen also aus ganz normalen Berufen und verwandelten sich in Monster. Erst 1962 begann ein Prozess zu diesem Fall von Kriegsverbrechen. Aus den Prozessakten geht hervor, dass einigen der Männer „die ganze Angelegenheit riesigen Spaß bereitete.“1

Der Sadismus ging so weit, dass ein frisch vermählter Hauptmann seine Frau zum Feiern der Flitterwochen mitbrachte zu den Massakern. Denn der Blutrausch ging in anderen Dörfern weiter. Und die Frau flanierte im mitgebrachten weißen Brautkleid zwischen den Juden herum, die auf dem Marktplatz zusammengetrieben wurden. Sie war nicht die einzige Ehefrau, die zu Besuch kommen durfte. In den Prozessakten sagt die Frau eines Leutnants: „Ich saß eines Morgens mit meinem Mann im Garten seiner Unterkunft beim Frühstück, als ein einfacher Mann seines Zuges auf uns zukam, stramme Haltung einnahm und erklärte: ,Herr Leutnant, ich habe noch kein Frühstück gehabt!‘ Als mein Mann ihn fragend ansah, erklärte er weiter: ‚Ich habe noch keinen Juden umgelegt.‘“2

Darf man beim 7. Oktober an die Massaker der Nazis denken? Ich glaube, man sollte es sogar tun, weil die Hamas selbst die Erinnerung an die Shoah wachrufen wollte. Und sie wollte demonstrieren, dass der Staat Israel keine Garantie mehr für das Überleben der Juden ist. Dass ihr Staat ein Trugbild ist, das er sie nicht retten wird. Der Verstand verbietet einem die Nähe zu dem Wort Shoa. Aber warum muss er das verbieten? Weil das Gefühl, das man hat, dieser pulsierenden Nähe nicht ausweichen kann.

Und was mir dann noch einfällt und mich wieder an die Nazis erinnert: Das rote Dreieck aus der Flagge der Palästinenser. In den Konzentrationslagern war es das Zeichen für kommunistische Häftlinge. Und heute? Man sieht es heute wieder in den Videos der Hamas und auf Hausfassaden in Berlin. In den Videos wird es als Aufruf zum Töten benutzt. Auf den Hausfassaden markiert es Ziele, die angegriffen werden sollen. Ein großes rotes Dreieck droht über dem Eingang des Techno-Clubs „About Blank“. Hier tanzten jahrelang in größter Selbstverständlichkeit syrische Flüchtlinge und schwule Israelis. Aber nun ist nichts mehr selbstverständlich. Nun schreit das rote Dreieck über dem Eingang. Ein Raver, dessen jüdische Familie aus Libyen und Marokko kommt, sagt heute: „Das politische Klima weckt alle Dämonen. Für die Rechten sind wir Juden nicht weiß genug, für die Linken sind wir zu weiß.“ Der Judenhass hat sich ins Berliner Nachtleben eingefressen. Nach dem 7. Oktober hat die Berliner Club-Szene sich buchstäblich weggeduckt. Obwohl 364 junge Leute, Raver wie sie, auf einem Technofestival hingemetzelt wurden, hat der Clubverband sich erst Tage später dazu geäußert. Und selbst das war nur eine matte Pflichtübung, denn der Antisemitismus und die Hamas wurden nicht einmal erwähnt.

Regenbogenfahne im Gazastreifen?

Ich habe über 30 Jahre in einer Diktatur gelebt. Und als ich nach Westeuropa kam, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Demokratie jemals so infrage gestellt werden könnte. Ich dachte, dass man in der Diktatur planmäßig verblödet wird. Und dass man in Demokratien individuell denken lernt, weil der einzelne Mensch zählt. Im Unterschied zur Diktatur, wo das eigene Denken verboten ist und das Zwangskollektiv die Menschen dressiert. Und wo das Individuum nicht ein Teil, sondern ein Feind des Kollektivs ist. Ich bin entsetzt, dass gerade junge Leute, Studenten bei uns im Westen so verwirrt sind, dass sie sich ihrer Freiheit nicht mehr bewusst sind. Dass sie anscheinend die Fähigkeit verloren haben, zwischen Demokratie und Diktatur zu unterscheiden. Es ist doch absurd, dass etwa Homosexuelle und queere Menschen für die Hamas demonstrieren – wie auch am 4. November in Berlin. Es ist doch kein Geheimnis, dass nicht nur die Hamas, sondern die ganze palästinensische Kultur LGBT verachtet und bestraft. Allein eine Regenbogenfahne im Gazastreifen ist unvorstellbar. Der Sanktionskatalog der Hamas für Schwule geht von mindestens 100 Peitschenhieben bis zum Todesurteil.

Als queerer Mensch für Palästina zu demonstrieren ist wie als Huhn für Kentucky Fried Chicken zu demonstrieren.

Bei einer Umfrage von 2014 in den palästinensischen Gebieten sagten 99% der Befragten, Homosexualität sei moralisch inakzeptabel. Man kann es auch satirisch zuspitzen wie der Blogger David Leatherwood auf „X“: Als queerer Mensch für Palästina zu demonstrieren sei wie als Huhn für Kentucky Fried Chicken zu demonstrieren. Ich frage mich auch, ob die Studenten vieler amerikanischer Universitäten wissen, was sie tun, wenn auf den Demos gerufen wird: „Wir sind Hamas“, oder sogar „Geliebte Hamas bombardier Tel Aviv“ oder „Zurück zu 1948“. Ist das noch unbefangen oder schon debil, wobei das Massaker vom 7. Oktober bei diesen Demos mit keinem Wort mehr erwähnt wird. Und es ist infam, wenn der 7. Oktober sogar als Inszenierung Israels interpretiert wird. Oder wenn mit keinem Wort die Freilassung der Geiseln gefordert wird. Wenn stattdessen der Krieg Israels in Gaza als willkürlicher Eroberungs- und Vernichtungskrieg einer Kolonialmacht dargestellt wird. Springen in den Köpfen der jungen Leute nur noch Clips wie bei TikTok?

Mittlerweile scheinen mir die Begriffe follower, influencer, activist nicht mehr harmlos. Diese geschmeidigen Internet-Wörter machen ernst. Es gab sie alle schon vor dem Internet. Ich übersetze sie mir in die Zeit zurück. Und plötzlich werden sie starr wie Blech und überdeutlich. Denn außerhalb des Internets bedeuten sie Gefolgschaft, Einflussagent, Aktivist. Als wären sie übernommen aus der Kaderschmiede einer faschistischen oder kommunistischen Diktatur. Ihre Geschmeidigkeit ist ohnehin nur eine Illusion. Denn ich weiß, dass die Wörter, das was sie sagen, auch tun. Sie fördern Opportunismus und Gehorsam im Kollektiv und ersparen die eigene Verantwortung für das, was die Gruppe tut. Mich würde es nicht wundern, wenn unter den Demonstranten nicht auch Studenten wären, die vor einigen Monaten noch mit der Parole „Frau, Leben, Freiheit“ gegen die Unterdrückung im Iran protestierten. Es entsetzt mich, wenn dieselben Demonstranten heute solidarisch sind mit der Hamas. Mir scheint, dass sie den abgründigen Gegensatz der Inhalte gar nicht mehr kapieren. Und ich frage mich, wieso es ihnen egal ist, dass die Hamas nicht einmal die kleinste Demo für irgendein Frauenrecht zulassen würde. Und dass am 7. Oktober geschändete Frauen als Kriegsbeute vorgeführt wurden.

 

Herta Müller beim Forum zum 7. Oktober in Stockholm. Foto: J! Judisk kultur i Sverige

Auf dem Campus der Universität in Washington spielen die Protestler als Unterhaltung das Gruppenspiel „Volkstribunal“. Zum Spaß wird Vertretern der Universität der Prozess gemacht. Und dann folgen die Urteile und alle grölen im Chor: „Ab an den Galgen“ oder „Guillotine“. Es wird geklatscht und gelacht und sie taufen ihr Zeltlager „Märtyrerplatz“. In Form von Happenings feiert man mit gutem Gewissen die grenzenlose eigene Verblödung im Kollektiv. Man fragt sich, was wird heute an Universitäten unterrichtet. Mir scheint, dass sich seit dem 7. Oktober der Antisemitismus wie durch ein großes kollektives Fingerschnippen ausgebreitet hat, als wäre die Hamas der Influencer und die Studenten die Follower. In der medialen Welt der Influencer und ihrer Follower zählen nur die kurzen Klicks der Videos. Der Augenaufschlag, das Antippen von quirligen Emotionen. Da funktioniert die gleiche Masche wie in der Werbung. Bekommt die Verführbarkeit der Massen, der Grund für das Unheil des 20. Jahrhunderts, eine neue Wendung?

Komplizierte Inhalte, Nuancen, Zusammenhänge und Widersprüche, Kompromisse sind der medialen Welt fremd. Das zeigt sich auch in einem stupiden Aufruf von Internetakteuren gegen die Oberhauser Kurzfilmtage. Es ist das älteste Kurzfilmfestival der Welt und feiert in diesem Jahr sein 70jähriges Bestehen. Viele große Filmemacher starteten hier ihre Karrieren mit frühen Arbeiten. Milós Forman, Roman Polanski, Marin Scorsese, István Szabó oder Agnès Varda. Zwei Wochen nach den Hamas-Feiern auf den Berliner Straßen hat der Leiter des Festivals Lars Henrik Gass geschrieben: „Eine halbe Million Menschen sind im März 2022 auf die Straße gegangen, um gegen Russlands Überfall auf die Ukraine zu protestieren. Das war wichtig. Bitte lasst uns jetzt ein mindestens ebenso starkes Zeichen setzen. Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!“

Daraufhin gab es eine feindselige Antwort im Internet. Eine anonyme Gruppe warf ihm vor, die Solidarität mit der palästinensischen Befreiung zu dämonisieren. Die Gruppe versicherte ihm, sie werde die internationale Filmgemeinschaft „ermutigen“, ihre Beteiligung am Festival zu überdenken. Ein verschleierter Boykottaufruf, dem viele Filmemacher folgten und ihre Zusagen wieder kündigten. Lars Henrik Gass sagt ganz richtig, man erlebe zurzeit eine Regression in der politischen Auseinandersetzung. Statt politisches Denken herrsche ein esoterisches Verständnis von Politik. Dahinter stehe die Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit und Konformitätsdruck. Auch in der Kunstszene ist eine Differenzierung zwischen dem Eintreten für das Existenzrecht Israels und der gleichzeitigen Kritik an seiner Regierung unmöglich geworden.

Ich habe den Eindruck, die Strategie der Hamas und ihrer Unterstützer möchte, dass alles Israelische und damit auch alles Jüdische der Welt unerträglich gemacht wird.

Darum wird nicht einmal erwogen, ob die weltweite Empörung über die vielen Toten und die Not in Gaza nicht vielleicht zur Strategie der Hamas gehört. Sie ist taub und blind für das Leid ihrer Bevölkerung. Warum sonst beschießt sie den Grenzübergang Kerem Shalom, wo die meisten Hilfslieferungen ankommen? Oder warum sonst beschießt sie die Baustelle eines provisorischen Hafens, an dem bald Hilfsgüter anlanden sollen? Man hat von den Herren Sinwar und Haniye noch kein einziges Wort des Mitgefühls für die Menschen in Gaza gehört. Und statt Friedenswunsch nur Maximalforderungen, von denen sie wissen, dass Israel sie nicht erfüllen kann. Die Hamas setzt auf einen permanenten Krieg mit Israel. Er wäre die beste Garantie für ihr Weiterbestehen. Außerdem hofft die Hamas, Israel international zu isolieren, koste es was es wolle.

Holocaust-Gedenken als kulturelle Waffe?

Im Roman „Doktor Faustus“ von Thomas Mann heißt es, der Nationalsozialismus habe „alles Deutsche der Welt unerträglich gemacht“. Ich habe den Eindruck, die Strategie der Hamas und ihrer Unterstützer möchte, dass alles Israelische und damit auch alles Jüdische der Welt unerträglich gemacht wird. Die Hamas will den Antisemitismus als bleibende globale Grundstimmung erhalten. Deshalb will sie auch die Shoa umdeuten. Auch die Naziverfolgung und die rettende Flucht nach Palästina sollen infrage gestellt werden. Und damit letztendlich das Existenzrecht Israels. Diese Manipulation geht bis zu der Behauptung, das deutsche Holocaust-Gedenken diene nur als kulturelle Waffe, um das westlich-weiße „Siedlungsprojekt“ Israel zu legitimieren. Mit solchen ahistorischen und zynischen Umkehrungen der Täter-Opferrelation soll jede Differenzierung zwischen Shoa und Kolonialismus verhindert werden. Mit all diesen gestapelten Konstrukten soll Israel nicht mehr als einzige Demokratie im Nahen Osten, sondern als kolonialistischer Musterstaat gesehen werden. Und als ewiger Aggressor, gegen den der blinde Hass gerechtfertigt ist. Und sogar der Wunsch nach seiner Vernichtung.

Der jüdische Dichter Jehuda Amichai sagt, ein Liebesgedicht auf Hebräisch sei immer eines über den Krieg. Oft auch eines mitten aus dem Krieg. Sein Gedicht „Jerusalem 1973“ erinnert an den Jom-Kippur-Krieg: „Betrübte Männer tragen die Erinnerung an ihre Lieben im Rucksack, in der Seitentasche im Patronengürtel, in den Säcken der Seele, in schweren Traumblasen unter den Augen.“ Als Paul Celan 1969 Israel besuchte, übersetzte Amichai Celans Gedichte und las sie auf Hebräisch vor. Hier trafen sich nach der Shoa zwei Gerettete. Jehuda Amichai hieß Ludwig Pfeuffer, als seine Eltern aus Würzburg flohen. Der Besuch in Israel wühlte Celan auf. Er traf Schulfreunde aus dem rumänischen Czernowitz, die sich anders als seine ermordeten Eltern nach Palästina retten konnten. Paul Celan schrieb nach seinem Besuch und kurz vor seinem Tod in der Seine an Jehuda Amichai: „Lieber Jehuda Amichai, lassen Sie mich hier das Wort wiederholen, das mir im Gespräch mit Ihnen spontan über die Lippen kam: Ich kann mir die Welt ohne Israel nicht vorstellen; und ich will sie mir auch nicht ohne Israel vorstellen.“

1Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 150

2 Ebd., S. 172

©Herta Müller 2024

 

Herta Müller schrieb ihre Rede eigens für die Veranstaltung The October 7 Forum (May 25-26, Stockholm), die von der Jewish Culture in Sweden (J!)  organisiert wurde. J! gehört zu den führenden jüdischen Kulturinstitutionen in Europa. Sie erforscht jüdische Literatur, Philosophie, Geschichte und Kunst und reflektiert deren Besonderheit und Universalität. Darüber hinaus präsentiert J! regelmäßig hochkarätige Programme mit prominenten Teilnehmern, zuletzt Salman Rushdie.

 

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Herta Müller

Die 1953 geborene rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller studierte Literatur und arbeitete zunächst als Übersetzerin. Sie wurde jedoch entlassen, weil sie sich weigerte, Spitzeldienste für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu leisten. Später geriet selbst ins Visier der Securitate. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden in über 50 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis.

3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Eine sehr berührende und klare Rede. Alle wichtige Eckpunkte wurden mit exzellent literarischer Fähigkeit offengelegt. Ich gratuliere Frau Müller für ihre Offenheit und Mut.

  • Petra Schmieder
    10. Oktober 2024 19:09

    Danke Herta Müller, es ist eine große Freude Ihnen zuzuhören und Ihre unbequemen Texte zu lesen!

  • Erwin Habisch
    29. Oktober 2024 11:52

    Vielen Dank, Herta Müller. Besser hätte man es nicht sagen können. Die Rede ist eine notwendige Klarstellung. Sie sollte größere Verbreitung finden.

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