Es war ein besonderer Gedenktag, den Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 27. Januar im Deutschen Bundestag eröffnet hat. Nicht, weil er im Zeichen von Corona stand. Sondern weil wir in diesem Jahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern. Oder besser: auf deutschem Boden. Denn wie der Bundestagspräsident bereits in seinem ersten Satz feststellt: „Juden lebten am Rhein, lange bevor es Deutschland gab“. Eine Aussage, die schon zu Beginn der Veranstaltung indirekt das aufgreift, womit sich jüdische Deutsche immer wieder konfrontiert sehen: Dass sie eigentlich nicht wirklich zu Deutschland gehören. Dass sie nach Deutschland gekommen seien und eigentlich woanders hingehörten. Schäuble macht damit unmissverständlich klar, was selbstverständlich sein sollte – Juden sind Teil dieses Landes.
Schäubles Intro wirkt wie ein Staffelstab, der an die folgenden Rednerinnen weitergereicht wird. Dr. h.c. Charlotte Knobloch, eine von in diesem Jahr zwei Gedenkrednerinnen, beginnt ihre Rede mit einem patriotischen Bekenntnis: „Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche!“ Eine Aussage, die in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert ist. Denn die 88jährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern blickt als Überlebende der Shoa nicht nur auf die Gräuel der Nationalsozialisten zurück, sondern erlebt auch das Wiedererstarken des Antisemitismus in der Gegenwart. Sie muss ertragen, dass ein gewählter Bundestagsabgeordneter die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur als Vogelschiss bezeichnet und immer mehr Menschen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie mit dem Entzug der Bürgerrechte der Juden im Dritten Reich gleichsetzen. Für Knobloch unerträglich: „Wer Corona-Maßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik vergleicht, verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Shoah. Das ist inakzeptabel!“
Gedenken und Gegenwartsbezug
Knobloch blickt in ihrer Rede zurück auf das Schicksal der Juden und auf das ihrer Familie im Besonderen. Der Vater habe sie die Liebe zu diesem Land gelehrt – „trotzdem“, wie sie sagt. Ergreifend ist der Zeitzeugenbericht, der jedoch nicht im Gedenken verharrt, sondern immer wieder die Brücken zur Gegenwart schlägt, in der nicht nur der Antisemitismus eine Rolle spielt, sondern auch die Hoffnung: „Ich bin stolz auf die jungen Menschen in unserem Land.“ Diese seien frei von Schuld, was die Vergangenheit angeht. „Aber sie übernehmen Verantwortung für Heute und Morgen – interessiert, leidenschaftlich und mutig.“ Knoblochs Mahnung: „Passen Sie auf auf unser Land!“
Ein Land, das auch für die 55 Jahre jüngere Marina Weisband zur Heimat geworden, nachdem sie 1994 mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Deutschland gekommen war. Hier habe die Familie weder ihren jüdischen Namen angenommen, erzählt die ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei und betont, dass sie mit diesem Land positive Erfahrungen gemacht habe. „Ich hatte das Gefühl, diese Gesellschaft geht mich etwas an. Ich bin Teil von ihr.“ Weisband sieht sich als neue Generation, die das Erbe der Zeitzeugen pflegen muss. „Wir, die Nachkommen, stehen jetzt der Tatsache gegenüber, dass mehr und mehr Augenzeugen von uns gehen.“ Ihre Generation müsse einen Weg finden, das Gedenken der Shoah weiterzutragen, ohne „uns selbst zu einem lebendigen Mahnmal zu reduzieren“. Weisband richtet den Blick darauf, wie jüdisches Leben heute aussieht. Denn es sei „für uns noch immer zu gefährlich, sichtbar zu sein.“ Bewaffnete Sicherheitsbeamte vor Schulen und Synagogen führt sie als Beleg an und betont, dass man Strukturen von Unterdrückung sichtbar machen müsse für die Nichtbetroffenen.
Mit dem diesjährigen Format hat der Deutsche Bundestag einen wichtigen Schritt in eine neue Gedenkkultur gemacht. Der Blick in die Vergangenheit kommt nicht mehr ohne Überprüfen der Gegenwart aus. Wer künftig „nie wieder“ sagt, muss sich daran messen lassen, was heute geschieht. Die ermordeten Juden zu ehren und zu betrauern ist wichtig. Doch glaubwürdig kann dies nur sein, wenn die lebenden Juden in unserer Gesellschaft sichtbar sein können, ohne Angst haben zu müssen.