Gedenken an meinen Großvater

Leopold Blum, Gemälde von Albert Fessler aus den 1920er Jahren © privat

„Jeder, der einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge.“ So der Holocaust-Überlebende und Friedennobelpreisträger Eli Wiesel. Er meinte damit: Über das Verbrechen an den Juden zu berichten ist eine Aufgabe, die von Generation zu Generation weitergegeben werden muss. Als Mahnung, damit es sich niemals wiederholt. Die Zeugin, von der ich über dieses Verbrechen weiß, ist meine Mutter. Sie war knapp sechs Jahre alt, als sie miterleben musste, was die Nazis am 9. November 1938 ihrem Vater angetan haben – meinem Großvater, den ich nie kennenlernen konnte. Er hieß Leopold Blum und war Jude. Heute, 80 Jahre später, möchte ich an ihn erinnern. 

Was am 9. November 1938 geschehen ist, haben die meisten von uns aus dem Geschichtsunterricht, aus Büchern oder aus dem Fernsehen erfahren. Ich habe es aus den Erzählungen meiner Mutter erfahren. Und aus einem Koffer, in dem sie Dokumente aus der Nazizeit und der Nachkriegszeit aufbewahrt hat. Als wir Kinder waren, hieß es nur, er sei im Krieg gestorben. Erst spät, als meine Geschwister und ich erwachsen waren, brachte sie es über sich, von ihren Erlebnissen als Kind zu berichten.

Mein Großvater und meine Großmutter haben sich in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, den Goldenen Zwanziger Jahren, ineinander verliebt und geheiratet. Er war jüdisch, sie war evangelisch, das erschien damals als kein großes Problem, auch wenn einige Verwandte die Nase gerümpft haben sollen. Die beiden gründeten eine Familie und bekamen zwei Töchter. Mein Großvater war Reisender, heute sagt man Handelsvertreter, und verdiente gut. Sie träumten von einer glücklichen Zukunft. Doch es folgte ein Alptraum.

1933 kamen die Nazis an die Macht. Der Hass gegen die Juden artikulierte sich immer schlimmer. „Deutsche wehrt euch. Kauft nicht bei Juden,“ gehörte zu den wirkungsvollsten Propagandasprüchen. Auch das Unternehmen, bei dem mein Großvater arbeitete, wurde boykottiert und musste aufgeben, weil der Inhaber Jude war. Mein Großvater wurde arbeitslos. Als Jude bekam er keine neue Arbeit. Meine Großmutter musste fortan das Geld für die junge Familie verdienen. Sie bekam eine Stelle als Sekträterin bei einer Bausparkasse. Leopold Blum wurde unfreiwillig zum Hausmann. Er war ein guter Vater, der seine beiden kleinen Töchter über alles geliebt hat. 

Am 9. November 1938 passierte das Unfassbare. Mitten in der Nacht verschafften sich fünf Männer in langen Ledermänteln, jeder mit einem Schlagstock bewaffnet, Eintritt in die Wohnung der Familie. Alle wurden in die Küche gezerrt. Vor den Augen der kleinen Kinder und seiner Frau haben die fünf Männer auf meinen Großvater wie wild eingeschlagen. „Ich vergesse nie das Blut auf dem Küchentisch“, hat mir meine Mutter erzählt. „Es ging alles sehr schnell, dann haben sie ihn mitgenommen,“ erinnert sie sich. Zwei Wochen nach dem Novemberpogrom wurde sie sechs Jahre alt und musste ihren Geburtstag erstmals ohne ihren Vater erleben. Sie hat ihn nie wieder gesehen. 

„Vergeltungsaktion“ gegen die Pforzheimer Juden

In einem 2016 erschienenen Geschichtsbuch kann man nachlesen, was damals in Pforzheim, wo sich das alles abgespielt hat, geschah. Die Aktion war von langer Hand von der SA geplant. Es war eine sogenannte „Vergeltungsaktion“ gegen die Pforzheimer Juden. Sechs Trupps zu je vier bis acht SA-Männern bekamen die Namen und Adressen der Pforzheimer Juden und zogen durch die Stadt. Ihr Auftrag lautete, „die Juden zu verhauen“. Der Trupp, der meinen Großvater verprügelte, war besonders brutal. Einer der Leute ist nach der Gewaltorgie noch in den „Rappen“ gegangen, eine Kneipe, die bis 3 Uhr geöffnet hatte. Gäste haben ihn gefragt, warum seine Stiefelabsätze so blutig  wären. Er antwortete, „er habe sich beteiligt, die Juden hinauszuschmeißen.“

Meine Mutter erzählt, dass die Schläger ihren Vater nach dem Überfall auf einem Lastwagen abtransportiert haben. Er wurde wie Tausende andere Juden in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Ohne Kontakt zur Familie war er dort ein Jahr lang eingesperrt. Danach ließen sich meine Großmutter und mein Großvater scheiden, um die Töchter zu schützen. Er zog nach Karlsruhe und wohnte zwangsweise in einem „Judenhaus“.

Aber sein Leidensweg war noch nicht zu Ende. Am 22. Oktober 1940 – ausgerechnet an Sukkot, dem jüdischen Laubhüttenfest –  wurde er wie alle südwestdeutschen Juden im Zuge einer sorgfältig geplanten Geheimaktion in das Internierungslager Gurs in den französischen Pyrenäen deportiert, mehr als 1200 Kilometer weit weg. Es war die erste Deportation von Juden in großem Stil und der Auftakt zur endgültigen Vernichtung der europäischen Juden. Die südwestdeutschen Gauleiter meldeten Adolf Hitler ihre Gauen stolz als erste im Reich „judenfrei“. 

Währenddessen rollte mein Großvater zusammen mit Hunderten von Menschen in Güterwaggons an ein fernes, unbekanntes Ziel. Etwa 25 Stundenkilometer fuhren diese Züge, endlos zog sich die Fahrt hin. Baracken, Kälte, Schlamm und Hunger erwarteten die Deportierten. Gurs wurde die Vorhölle von Auschwitz genannt. 

Wie die Zustände dort waren, ist durch das „Lied von Gurs“ überliefert, das ein Lagerinsasse geschrieben hat:

Schön ist die Welt für viele / Bei ihnen geht alles glatt / Doch daneben gib’s auch andere, die haben das Leben satt.  / In den Bas-Pyrenäen gibt’s seinen Ort / Dort stehen Baracken, aber kein Baum steht dort, / in dieses Lager muss der hinein, / der kein Recht hat, Mensch zu sein.

Leopold Blum hat zwei Jahre in Gurs überlebt. Als Folge der Wannseekonferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ wurde er am 28. August 1942  wieder in einen Güterzug verfrachtet. Die Fahrt dauerte vier Tage. Der Zug fuhr über 2500 Kilometer weit nach Auschwitz. Dort wurde mein Großvater ermordet.

Auszug aus dem Buch der Namen in der Gedenkstätte Auschwitz. © Privat

Keine Kinderhilfe wegen „artfremden Bluteinschlags“

Auch in Pforzheim ging das Grauen weiter. Acht Tage nach dem Novemberprogrom, am 17. November 1938, wurde meine Großmutter entlassen, weil sie mit einem  Juden verheiratet war.  Aber es gab auch gute Menschen in dieser Zeit. Sie fand eine neue Stelle. Meine Mutter kam inzwischen in die Volksschule. Sie war eine gute Schülerin, aber sie durfte später keine höhere Schule besuchen, weil sie die Tochter eines Juden war. 

Aus dem gleichen Grund wurde später auch eine Kinderhilfe verweigert, die meine Großmutter während des Krieges beantragt hatte. Zitat aus einem Schreiben des Finanzamtes Pforzheim vom 29. September 1942 an meine Großmutter, die dagegen Beschwerde eingereicht hatte. „Ich kann ihrer Beschwerde nicht entsprechen. Der Herr Badische Minister des Innern hat den Widerspruch des Herrn Oberbürgermeisters in Pforzheim bestätigt, weil die Kinder jüdische Mischlinge 1. Grades sind und einen artfremden Bluteinschlag aufweisen. Ein weiteres Rechtsmittel gegen diesen Bescheid ist nicht gegeben.“

Keine Kinderhilfe wegen jüdischer Abstammung. Am 29. September 1942 erhielt meine Großmutter einen ablehnenden Bescheid des Finanzamts Pforzheim © Privat

 

Anfang 1945 musste sich meine Großmutter noch viel größere Sorgen machen. Denn der Vernichtungswille der Nazis betraf nach den neuesten Gesetzen auch die sogenannten jüdischen Mischlinge 1. Grades. Noch kurz vor Kriegsende standen deswegen die Namen meiner Mutter und ihrer Schwester, damals 13 und 15 Jahre alt, auf der Deportationsliste. Am 23. Februar 1945 sollten auch sie nach Auschwitz gebracht werden. 

Doch in der Nacht, bevor dieser Tag anbrach, wurde die Stadt Pforzheim von britischen Bombern angegriffen. 368 Flugzeuge der Royals Airforce mit 1500 Tonnen Sprengstoff und Brandbomben an Bord vernichteten rund 80 Prozent der Stadt. Es gab mindestens 17.600 Tote. Aber meiner Mutter und ihrer Schwester hat dieser Angriff das Leben gerettet. Die Nazis konnten die Deportation nicht mehr durchführen.

Nach dem Krieg hat meine Großmutter Wiedergutmachung  beantragt, noch einmal ein langer Kampf – diesmal mit den Behörden. Ich habe in dem Koffer einen dicken Aktenordner dazu gefunden. Bis 1961 zog sich die Auseinandersetzung hin. Am Ende erhielt sie vom Land Baden-Württemberg für die Zeit der Internierung ihres Mannes bis zu seiner Ermordung und die Benachteiligung ihrer Töcher bei ihrer schulischen Bildung eine „Entschädigung“ von 1.800 DM.

Der uralte Judenhass ist immer noch da

80 Jahre sind seit dem Novemberprogrom vergangen. Wir verneigen uns heute vor den toten Juden. Aber wir müssen auch den lebenden Juden beistehen, denn der uralte Judenhass ist immer noch da. Synagogen müssen immer noch bewacht werden. Juden müssen wieder befürchten, auf offener Straße angegriffen zu werden. Jüdische Kinder werden an der Schule gemobbt. In Fankreich und gerade in den USA wurden Juden ermordet, weil sie Juden waren. Gegen den jüdischen Staat Israel wird gehetzt wie gegen kein anderes Land auf der Welt. Das iranische Regime sagt ganz offen, dass es Israel vernichten will und baut an der Atombombe. 

Um so wichtiger ist es, dass Deutschland heute an der Seite Israels steht. Vor 70 Jahren gegründet, ist es trotz massiver Bedrohungen für die Juden ein sicheres Zuhause, sehr viel sicherer als damals das Zuhause meines Großvaters. Und Israel ist ein schönes, ein vielfältiges und faszinierendes Land. Ich selbst habe dort wunderbare Menschen kennengelernt. Deswegen freue ich mich sehr auf die Deutsch-Israelischen Kulturtage, die morgen in unserer Stadt beginnen. Vom 10. bis 25. November gibt es täglich Veranstaltungen, die Israel in ganz verschiedenen Facetten darstellen. Ab Mittwoch wird eine Doppelausstellung gezeigt über die Geschichte Israels und die deutsch-israelischen Beziehungen. Und ich möchte jedem ans Herz legen, der noch nie in Israel war, unbedingt dorthin zu fahren und zu entdecken, wie Israel wirklich ist.

Als ich zum ersten Mal in Israel war, habe ich in Jerusalem die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besucht. Es gibt dort die Halle der Namen. Ich war in meinem Leben noch nie so erschüttert, als ich sie betreten habe. Die Halle der Namen ist die Gedenkstätte des jüdischen Volkes für jeden Juden, der im Holocaust ermordet wurde. Sechs Millionen Menschen. Einer von ihnen war Leopold Blum. 

 

Leopold Blum (*21.11.1898 Hochhausen-Mosbach, †1942 Auschwitz) © Privat

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gedenkstein für die Opfer des Holocaust in Hochheim, dem Geburtsort von Leopold Blum © Privat

 

Ich habe die Rede am 9. November 2018 bei einer Gedenkveranstaltung in Bergisch Gladbach zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht gehalten.

 

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