Gabriel Riesser: Wortführer der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert

Gabriel Riesser um 1840, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim © Jüdische Gemeinde Hamburg / Foto: T. Lebed

Der Hamburger Jurist, Publizist und Politiker Gabriel Riesser (1806 – 1863) war eine der wichtigsten Persönlichkeiten im Kampf um die rechtliche und bürgerliche Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert. In der nichtjüdischen Öffentlichkeit ist sein Name heute weitgehend unbekannt, dabei war er auch einer der Vorväter unsere heutigen Verfassung. Mit Leidenschaft setzte er sich für die allgemeinen Menschenrechte, für eine freiheitliche Gesellschaft gleichberechtigter Bürger und für die Trennung von Kirche und Staat ein. Benachteiligungen hat Gabriel Riesser selbst von Kindesbeinen an erfahren. Auch nach seinem Jurastudium  und der Promotion zum Doktor der Rechte wurde ihm die Zulassung als Rechtsanwalt und Dozent verwehrt. Fortan setzte er sich mit der Feder für die Rechte der Juden ein. Gleich sein publizistisches Debüt erregte Aufsehen und machte ihn zum Wortführer der jüdischen Emanzipationsbewegung. „Als erster hat er den Tonfall bescheidener Demut abgelegt,“ attestiert ihm der Hamburger Historiker Rainer Postel. Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Heinrich Heine lehnte Gabriel Riesser einen Konfessionswechsel als vermeintlichen Türöffner für eine bürgerliche Karriere entschieden ab. „All unser Wille, alle unsere Kräfte sollten auf das eine Ziel, die Erringung der uns schmählich vorenthaltenen Menschen- und Bürgerrechte gerichtet sein, ohne sie durch eine Lüge zu erkaufen,“schrieb er 1831. Sein Selbstbewusstsein, sein Idealismus, seine Redegewandtheit und seine Argumentationsschärfe wurden bewundert und machten ihn äußerst erfolgreich: Er wird Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung und erlebt einen Höhepunkt als Politiker, als er am 29. August 1848 in der Paulskirche seine Stimme gegen einen antisemitischen Antrag erhebt. Aus dem Stegreif hält er ein leidenschaftliches Plädoyer für die rechtliche Gleichstellung der Juden, bekommt großen Beifall und die Zustimmung der Parlamentsmehrheit. Auch beruflich erreicht Gabriel Riesser schließlich als erster, was Juden in Deutschland bis dahin immer verwehrt wurde – ein Staatsamt: 1860 ernennt ihn der Hamburger Senat zum Richter.  

Eigentlich ist es nur eine Posse. Aber sie sagt viel aus über das Temperament des Gabriel Riesser, von dem es heißt, er habe nur Gegner gewählt, mit denen es sich zu streiten lohnt. Sie beginnt im Juni 1841, als die Mainzer Zeitung kolportiert, Heinrich Heine sei in Paris auf offener Straße von dem Kaufmann Salomon Strauß geohrfeigt worden. Strauß habe die Ehre seiner Frau Jeanette retten wollen. Diese war eine langjährige Freundin des Schriftstellers Ludwig Börne gewesen. Zeitweise lebte das Ehepaar Strauß mit Börne in Paris unter einem Dach. Über just dieses Dreiecksverhältnis hat sich Heine nach Börnes Tod lustig gemacht.

Heine dementiert den Vorfall umgehend: Er sei „nicht im entferntesten von irgendjemand insultiert“ worden. Strauß jedoch erhält Schützenhilfe. Auf das Dementi des Dichters erscheint im Hamburger Correspondenten eine bissige Replik. „Ob Hr. Heine die öffentlichen Mißhandlungen, von denen die Zeitungen erzählen, erlitten hat, weiß ich nicht“, schreibt der Verfasser Gabriel Riesser. „Ob er sie aber verdient hat, darüber möge das Urtheil aller Ehrenmänner in Deutschland entscheiden.“

Für Riesser hat der blasierte Heine zu Recht Prügel bezogen. Schließlich weiß Riesser aus „völlig unparteiischer und glaubwürdiger“ Quelle, dass Strauß den Dichter für dessen „Schändlichkeiten“ schon bei früherer Gelegenheit „mit den härtesten Worten gezüchtigt“ habe.

Riessers Verve wundert so manchen. Er mag mit den Eheleuten Strauß befreundet sein. Aber die Verhältnisse sind keineswegs so eindeutig, wie er es suggeriert. Geht es ihm am Ende gar nicht um die Straußsche Ehre? Ist es nicht vielmehr Heine, der ihn dermaßen reizt?

Mit „heiligem Grimm“ gegen Heinrich Heine

Tatsächlich steht Heinrich Heine für alles, was Riesser von Herzen verachtet: mangelndes Interesse am Kampf für die jüdische Sache, stattdessen eilfertige Konversion zum Protestantismus aus bloßen Opportunitätserwägungen heraus und – schlimmer noch – Kritik am Judentum bis hin zum Selbsthass. Für Riesser ist Heine ein arroganter Egomane. Einer, der sein Talent nicht in den Dienst eines Ideals stellt, sondern lediglich in den des eigenen Ruhms.

Und Riesser schüttet immer mehr Öl ins Feuer. Er lässt Heine gar durch einen Mittelsmann ausrichten, er sei zu jeder geforderten Genugtuung bereit, also auch zum Duell. Heine hingegen gibt kalt zurück: „Ich bin zufälligerweise ein berühmter Mann, wer mir nahe tritt, in öffentlicher Debatte, erregt die Aufmerksamkeit des Publikums, und mancher hat sich schon an mir einen Namen erschrieben. – Ist es meine Schuld, daß dieses dem Herr Rieser, wegen seines langweiligen Styles, noch nicht gelungen ist? Glaubt er, seinen Zweck sicherer zu erreichen, wenn er statt zur Feder jetzt zur Pistole greift? Es ist aber leicht möglich, daß er ebenso schlecht schösse, wie er schreibt. – Indessen, …Sie können ihm sagen: daß wenn mein Ehrenhandel mit Herrn Strauß keinen günstigen Ausgang für mich hat, es mir sogar nützlich dünkt, eine Satisfakzion von ihm, dem Herrn G. Rieser, anzunehmen. […] Herr Rieser ist Jurist und wird mich verstehen, wenn ich sage: pars sequitur suum principale; zu deutsch: wenn man mit dem Cometen selbst fertig ist, braucht man sich nicht mit dessen Schwanz herum zu schlagen. Herr Rieser ist in dieser Sache der Schwanz.“

Tatsächlich kommt es zum Duell – zwischen Heine und Strauß! Heine wird leicht verletzt. Er erholt sich rasch. Der Pulverdampf verzieht sich. Gleiches gilt für das Interesse des Dichters an weiteren Querelen mit Riesser. Aber auch bei diesem reift die Einsicht, dass es besser ist, zurückzustecken. Er muss sich eingestehen, dass sein Temperament mit ihm durchgegangen ist: sein „heiliger Grimm“, den ihm bereits die Zeitgenossen attestieren – die an ihm allerdings auch die „Liebenswürdigkeit des Herzens“ rühmen.

Motiviert durch das Ideal der Gleichberechtigung

Es muss wohl das „Ideal“ gewesen sein, das ihn so agieren ließ – das Ideal, an das Heine nicht mehr glauben kann, das Ideal eines aufgeklärten, gleichberechtigten jüdischen Lebens in Deutschland, als Deutscher. Gabriel Riesser hingegen sollte sein Leben lang dafür fechten: Er wurde zu einem der Vorkämpfer der jüdischen Emanzipation, zu einem großen deutschen Liberalen.

Dabei stammte er aus einer sehr frommen Rabbinerfamilie, mütterlicher- wie väterlicherseits. Sein Vater Eliesser Lazarus ben Jacob Katzenellenbogen zog einst aus dem Nördlinger Ries nach Hamburg, um rabbinisches Recht zu studieren. In der Hansestadt nannte er sich nach seiner Heimat „Riesser“. Gabriels Mutter Frommaid (Fanny), war eine Tochter des Altonaer Oberrabbiners Raphael Cohen. Anfangs arbeitete Lazarus Riesser als dessen Gerichtssekretär. Später wurde er Kaufmann und schlug sich als Lotteriepächter durch.

Die Erziehung seines sechsten und letzten Kindes Gabriel, das am 2. April 1806 in Hamburg das Licht der Welt erblickte, liegt dem gebildeten Mann besonders am Herzen, erkennt er doch früh dessen außergewöhnliches Talent. Gabriel macht ein glänzendes Abitur am berühmten Hamburger Johanneum. Jurist will er werden. 1824 nimmt er das Studium auf, und zwar in Kiel. Später zieht es ihn nach Heidelberg. Dort hört er unter anderem bei Anton F. J. Thibaut, einem der bedeutendsten liberalen Zivilrechtslehrer seiner Zeit, bei dem auch Friedrich Hecker studierte – und der zugleich der große Gegenpart Friedrich Carl von Savignys ist, eines Gegners der Judenemanzipation. 1826 wird Riesser zum Doktor der Rechte promoviert, summa cum laude.

Er fasst eine akademische Laufbahn ins Auge. Doch da muss er rasch erfahren, wie unmöglich das für einen Juden in Deutschland ist. Heidelbergs ehrwürdige Ruperto Carola verweigert ihm die Ernennung zum Privatdozenten. Der Vorwand lautet, es seien alle Stellen besetzt. Ähnliches widerfährt ihm wenig später in Jena.

Der junge Jurist kehrt zurück nach Hamburg. 1829 unternimmt er den Versuch, beim Senat die Zulassung zur Advokatur zu erwirken. Die setzt das Bürgerrecht voraus. Als Jude hat er es nicht. Aber er beruft sich darauf, dass die Juden das Privileg der Gleichbehandlung bereits hatten – in den Jahren 1811 bis 1814, als Hamburg zum napoleonischen Frankreich gehörte. Artikel XVI der Deutschen Bundesakte bestimme, dass den Bekennern dieses Glaubens „die denselben von den einzelnen Bundesstaaten bereits eingeräumten Rechte“ erhalten bleiben müssten. Es gebe also Bestandsschutz. Doch der Senat weist sein Gesuch zurück.

Gabriel Riessers Schrift „Über die Stellung der Bekenner des Mosaischen Glaubens in Deutschland“ von 1831 © Goethe Universität Frankfurt

 

Entweder deutsch oder heimatlos

Riesser ist außer sich. Taufen lassen will er sich nicht. Zunächst lebt er vom Erbe seines inzwischen verstorbenen Vaters. Unter dem Eindruck der Pariser Julirevolution 1830 – kurz zuvor ist er in der französischen Hauptstadt gewesen – beschließt er, den Kampf um sein Recht und das Recht der Juden aufzunehmen. Er will schreiben, mit der Feder streiten.

Riessers erste politische Abhandlung erscheint gleich 1831. Sie trägt den Titel »Ueber die Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland«. Darin fordert er nicht weniger als die bedingungslose Gleichstellung der Juden ohne Zwang zum Konfessionswechsel. Er wiederholt sein Petitum über die Jahre in ungezählten weiteren Schriften. 1832, im Jahr des Hambacher Fests, gründet er die Zeitschrift »Der Jude« als periodisches Blatt für „Religions- und Gewissensfreiheit“. Den Titel hat er mit Bedacht gewählt. Noch immer gilt „Jude“ als Schimpfwort: „Wenn ein ungerechter Haß an unserem Namen haftet, sollen wir ihn dann verleugnen, anstatt […] ihn zu Ehren zu bringen?“, so fragt er rhetorisch.

Wir sind nicht eingewandert, wir sind eingeboren, und weil wir es sind, haben wir keinen Anspruch anderswo auf Heimat. Wir sind entweder Deutsche oder wir sind heimatlos.

Seine Position bleibt eindeutig: Die Juden sind keine eigene Nation. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als eine Religionsgemeinschaft wie jede andere: „Wir sind entweder Deutsche oder wir sind heimatlos.“ Das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Leben kann nicht an die Taufe gebunden sein: „Was sich dem lukrativen Übertritt zum herrschenden Glauben in unseren Zeiten entgegenstellt, […] ist der […] Grundsatz der Wahrheitsliebe und der Rechtlichkeit, daß die Lippen nicht bekennen sollen, was dem Herzen fremd ist.“

Zehn Jahre agitiert Riesser, ein zorniger junger Mann. Oft sind seine Schriften polemisch. Selten lesen sie sich leicht. Ganz Unrecht hat Heine nicht, wenn er sich über den Stil seines Herausforderers lustig macht. Eleganz und Witz gehen Riessers Texten ab. „Wäre ich witzig“, bekennt er, „so brauchte ich nicht halb so grob in meinen Schriften sein.“ Aber er wird zur Kenntnis genommen. Bald gilt er als wichtigster Anwalt der deutschen Juden, und das, obschon er in den innerjüdischen Debatten zwischen Orthodoxen und Reformern keineswegs unumstritten ist. So hat er es gewagt, sich gegen den Zwang zur Beschneidung (eine „widrige Zeremonie“) und überkommene Ritual- und Speisegesetze auszusprechen.

Trotz aller publizistischen Erfolge bleibt der Wunsch, als Jurist zu arbeiten. Das liegt auch daran, dass Riesser mit den Jahren nach materieller Sicherheit sucht. Ende 1839 bietet sich eine Chance. In Hamburg stirbt Meyer Israel Bresselau. Die Franzosen hatten den Juden 1811 zum Notar bestellt. Er war es geblieben, obschon er nach ihrem Abzug das Bürgerrecht verloren hatte und damit auch – der Notariatsordnung von 1815 zufolge – eigentlich keine Möglichkeit mehr besaß, als Notar bestallt zu werden.

Bürgerliche Existenz als Notar in Hamburg

Riesser bewirbt sich. Wieder stellt sich die Frage, ob er sein Verlangen auf den Artikel XVI der Bundesakte stützen kann. Erneut wird sie verneint. Aber diesmal nehmen die Dinge eine Wendung. Im Mai 1840 kommt es zur Verabschiedung einer Ausnahmeregelung, nach der „künftig hin auch ein oder zwei Mitglieder der hiesigen israelitischen Gemeinde, wenn sie sonst dazu qualifiziert wären, Notare werden könnten“. Die Notarkammer versucht die Umsetzung dieser „Lex Riesser“ zu unterlaufen. Der Kandidat hat aber einflussreiche Fürsprecher, unter ihnen den späteren Senator und Bürgermeister Nicolaus Ferdinand Haller. Am 25. September 1840 wird Gabriel Riesser als Notar vereidigt.

Er ist jetzt 34 Jahre alt. Endlich hat er einen Beruf, der ihm eine bürgerliche Existenz und Unabhängigkeit sichert. Gewiss ist er nicht aus Neigung Notar geworden. An das „ziemlich triviale Geschäft“ kann er sich nie gewöhnen. Aber man bescheinigt ihm „Fleiß, unverbrüchliche Verschwiegenheit und klare Einsicht“. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass zum Kreis seiner Klienten auch Salomon Heine zählt, der Erbonkel des Dichters. Als nach dem Tod des Bankiers ein erbitterter Streit um dessen Nachlass beginnt, mutmaßt der enttäuschte Neffe, dass Riesser, den er gehässig einen „Shylock“ nennt, ihm „bey dem Testamente [des] Oheims das gewünschte Pfund Fleisch unter dem Herzen herausgeschnitten“ habe. Tatsächlich ist Riesser einer der „Exekutoren“ des Letzten Willens des Bankiers. Das Testament beurkundet hat er jedoch nicht.

Zeitgenössische Lithografie der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848/1849 @ Wikimedia

 

Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung

Riessers Stunde schlägt im Frühjahr 1848. Ende Februar verjagen die Franzosen ihren Bürgerkönig Louis Philippe. Der revolutionäre Funke springt auf Deutschland über. Die Fürsten ziehen die Köpfe ein; in Frankfurt am Main soll eine Nationalversammlung zusammentreten und eine Verfassung beschließen. Riesser bekommt einen Sitz im Vorparlament. Dort plädiert er dafür, dass „jeder volljährige Deutsche ohne Bedingung des Standes, Vermögens und Glaubensbekenntnisses Wähler und wählbar“ sein muss.

Im April des Jahres bewirbt er sich in Hamburg um ein Mandat für das Paulskirchenparlament. Die Kandidatur in der Heimatstadt scheitert. Aber ausgerechnet das Herzogtum Lauenburg, elbaufwärts gelegen, in dem für Juden noch immer Niederlassungsbeschränkungen gelten, entsendet ihn als Abgeordneten. Einer Vertrauten schreibt er: „In einem Lande, das noch eine ganz mittelalterliche Verfassung hat und bis vor Kurzem von Beamten, Adel und Pfaffen beherrscht schien, ist der Erfolg ein überaus erfreulicher.“

 

Gabriel Riesser am Rednerpult. Autogrammkarte von 1849 © Leo Baeck Institut

 

Seine erste große Rede hält er am 29. August. Zur Abstimmung steht der spätere Paragraf 16 der Grundrechte: Das religiöse Bekenntnis soll die Rechte des Einzelnen künftig weder bedingen noch beschränken dürfen. Doch der Stuttgarter Wirtschaftspolitiker Moritz Mohl stellt dazu den Ergänzungsantrag, die „eigenthümlichen Verhältnisse des israelitischen Volksstammes“ einer „besonderen Gesetzgebung“ zu überlassen. Zur Begründung mobilisiert Mohl jedes antijüdische Klischee – von der Verderblichkeit der wucherischen Judenberufe bis hin zur Unvereinbarkeit des jüdischen Stammes mit dem deutschen Volk.

Ich nehme das Recht in Anspruch, vor Ihnen aufzutreten im Namen einer seit Jahrtausenden unterdrückten Klasse, der ich angehöre durch Geburt[…]. Glauben Sie nicht, daß sich Ausnahmegesetze machen lassen, ohne daß das gesamte System der Freiheit einen verderblichen Riß erhalte, ohne daß der Keim des Verderbens in dasselbe gelegt würde.

Riesser ist empört. Eigentlich versteht er sich als Vertreter eines liberalen Bürgertums. Nie zuvor und nie danach hat er sich in der Paulskirche auf seine Herkunft berufen. Jetzt aber kontert er: „Ich nehme das Recht in Anspruch, vor Ihnen aufzutreten im Namen einer seit Jahrtausenden unterdrückten Klasse, der ich angehöre durch Geburt, und der ich – denn die persönliche religiöse Ueberzeugung gehört nicht hierher – ferner angehöre durch das Princip der Ehre, das es mich hat verschmähen lassen, durch einen Religionswechsel schnöde versagte Rechte zu erwerben. Im Namen dieser unterdrückten Volksklasse gegen gehässige Schmähungen vor Ihnen das Wort zu ergreifen, dieses Recht nehme ich in Anspruch. Der geehrte Vorredner hat seinen Antrag in einer Unwahrheit gefaßt. Er will nämlich den israelitischen Volksstamm durch Ausnahmegesetze von dem für Alle gleichen Rechte ausgeschlossen haben[…]. Ich weiß, daß ich hier Partei bin, allein ich will es gern sein auf Seiten der Unrecht Leidenden und Unterdrückten […]. Ich selbst habe unter den Verhältnissen der tiefsten Bedrückung gelebt, und ich hätte bis vor Kurzem in meiner Vaterstadt nicht das Amt eines Nachwächters erhalten können. Ich darf es als ein Werk, ich möchte sagen als ein Wunder des Rechts und der Freiheit betrachten, daß ich befugt bin, hier die hohe Sache der Gerechtigkeit und der Gleichheit zu vertheidigen, ohne zum Christentum übergegangen zu sein. Und so lebe ich denn in der festen Zuversicht, daß die gute Sache bereits gesiegt hat, ungeachtet der letzten Aufwallungen des bösen Willens von wenigen Seiten her. […] Die Juden werden immer begeisterte und patriotische Anhänger Deutschlands unter einem gerechten Gesetz werden. Sie werden mit, und unter den Deutschen Deutsche werden. Vertrauen Sie der Macht des Rechts, der Macht des einheitlichen Gesetzes und dem großen Schicksal Deutschlands. Glauben Sie nicht, daß sich Ausnahmegesetze machen lassen, ohne daß das gesamte System der Freiheit einen verderblichen Riß erhalte, ohne daß der Keim des Verderbens in dasselbe gelegt würde. Es ist Ihnen vorgeschlagen, einen Theil des deutschen Volkes der Intoleranz, dem Hasse als Opfer hinzuwerfen; das aber werden Sie nimmermehr thun meine Herren!“ Das Protokoll verzeichnet „allgemeinen lebhaften Beifall“.

 

„Er wird mir gemüthlich schwer – dieser Antrag“. Karikatur zur Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung am 29. August 1848 mit den Abgeordneten Gabriel Riesser und Moriz Mohl. Lithografie von Moritz Daniel Oppenheim © Wien Museum Inv.-Nr. 88343

Plädoyer für einen deutschen Kaiser

Riessers Standpunkt setzt sich durch. Sein Ansehen wächst. Im Oktober 1848 wird er zum Zweiten Vizepräsidenten des Hauses gewählt. Und Riesser bleibt ein Mann der Mitte. Zum Höhepunkt seines parlamentarischen Wirkens wird seine zweistündige „Kaiserrede“ am 21. März 1849, die die Parlamentarier zu Beifallsstürmen hinreißt. Er plädiert pragmatisch für die kleindeutsche Lösung, für eine konstitutionelle Monarchie, das preußische Erbkaisertum, ohne die Habsburger Lande: „Ich rufe Ihnen zu, krönen Sie Ihr Werk, erfüllen Sie den alten edlen Traum des deutschen Volkes von seiner Einheit, Macht und Größe, fassen Sie einen großen, rettenden weltgeschichtlichen Entschluß!“

Das Parlament folgt ihm erneut. Überdies wählt es Riesser in die Deputation, die Friedrich Wilhelm IV. in Berlin die Krone antragen soll. Doch die Parlamentarier werden gedemütigt. Längst hat die Reaktion wieder Oberwasser. Der Preußenkönig, in absolutistischen Fantasien befangen, lehnt brüsk ab, nennt die Kaiserkrone einen „imaginären Reif“ aus Dreck und Lehm, „von Bäckers und Metzgers Gnaden“.

Riesser ist tief enttäuscht. Am 26. Mai erklärt er seinen Austritt aus der Nationalversammlung. Kurz darauf, im Juni, wird das verbliebene Rumpfparlament in Stuttgart zerschlagen. Unter dem 12. September 1849 notiert er: „Was der Sturm des Augenblicks den Ungeduldigen zu verheißen schien, aber zu gewähren nicht vermochte, das wollen wir in treuer, schwerer, beharrlicher Arbeit der Zeit abzuringen nicht ermüden.“

Erster jüdischer Richter in Deutschland

Zurück in Hamburg, geht Riesser wieder seinen Notariatsgeschäften nach. In der Heimat hat sich inzwischen viel verändert. Bereits im Februar 1849 sind hier die Grundrechte der Paulskirche Gesetz geworden. Die Gleichstellung der Juden ist anerkannt. Riesser kann Bürger der Hansestadt werden. Er geht auf ausgedehnte Reisen: nach England, Italien, Irland, Kanada, in die USA und nach Kuba. Sie liefern ihm Stoff für Vorträge und Aufsätze. 1857 legt er das Notaramt nieder. Äußerer Anlass ist ein Streit mit einem Mandanten. Tatsächlich ist der Entschluss schon vorher gereift. Riesser fühlt sich erschöpft und sucht Ruhe.

Diese Ruhe währt nicht lange. 1859 kommt es in Hamburg zur Verfassungsreform. Die Bürgerschaft – bislang Versammlung der Haus- und Grundbesitzer – wird Volksvertretung. Sie wählt Riesser zu ihrem Vizepräsidenten. Als im Jahr darauf eine Stelle am nunmehr vom Senat unabhängigen Hamburger Obergericht zu besetzen ist, fällt die Wahl auf ihn. Aus dem Juden und Achtundvierziger, dem man einst die Zulassung zur Advokatur verwehrt hat, ist der erste Richter jüdischen Glaubens in Deutschland geworden.

Riessers Karriere endet 1862, als seine Wiederwahl in die Bürgerschaft scheitert. Er erkrankt an einer Geschwulst. Am 22. April 1863 stirbt der Junggeselle in Hamburg. „Er ging“, schreibt ein Nachrufer, „von den droîts de l’homme aus, die ihm ein unveräußerliches Recht bildeten: Gleichheit der Rechte und der Pflichten in allen öffentlichen Verhältnissen; von diesem Puncte aus betrachtete er die Gleichstellung der Juden im Staate und suchte, in weiteren Kreisen zur Wirksamkeit berufen, alle ähnlichen Ungleichheiten aus denselben Prinzipien zu bekämpfen.“

Juristisch war Riessers Kampf erfolgreich. Von 1871 an galt für Juden im ganzen Deutschen Reich Rechtsgleichheit. Und doch sollte der pessimistische Heinrich Heine mit seiner Skepsis am Ende recht behalten: 1933 ging die deutsche Kultur in Flammen auf. Aber das war nicht Riessers Niederlage, sondern Deutschlands Schande.

 

Das wunderbare an diesem Manne war, […] daß er seinen Gegnern alles sagen konnte, ohne sie zu verletzen. So war er der gegebene Mittler, der Mann der Mitte. Die rednerische Gabe des Hamburger Notars und Anwaltes war außerordentlich. Man hätte dem schweren Mann nicht den leichten und schönen Fluß des Wortes zugetraut. Er sprach getragen und feierlich, immer würdig und edel, ganz entfernt von den Niederungen der Effekthascherei. Am überzeugendsten war er, wenn sittliche Werte in Frage standen.

Zitiert nach Julius H. Schoeps, Gabriel Riesser, S. 57

 

Der Beitrag wurde anlässlich des 150. Todestages von Gabriel Riesser verfasst und für das Projekt Megilla ergänzt. Erstveröffentlichung in DIE ZEIT 18/2013.

 

Literatur:

  • Arno Herzig: Gabriel Riesser. Hamburg 2008
  • Helga Kron: Dem Streiter für Recht und Freiheit. Gabriel Riesser zum 200. Geburtstag. Frankfurt 2006
  • Rainer Postel: Gabriel Riesser 1806 – 1863, in: Die Notare. Hamburg 2001
  • Gabriel Riesser: Rede gegen Moritz Mohl’s Antrag zur Beschränkung der Rechte der Juden, 29. August 1848, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 403-410
  • Julius H. Schoeps: Gabriel Riesser. Demokrat – Freiheitskämpfer – Vordenker. Berlin/Leipzig 2020

 

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Prof. Dr. Peter Rawert

https://www.notariat-ballindamm.de/partner/prof-dr-jur-peter-rawert-llm-exeter/

Professor Dr. Peter Rawert ist Partner im Notariat Ballindamm, dem ältesten Notariat Hamburgs. Die Geschichte der Sozietät lässt sich bis ins späte 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Auch Gabriel Riesser gehörte ihr einst an.

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