Freiheitsrufer aus der pfälzischen Idylle

Joachim Gauck bei der Entgegennahme des Hambacher Freiheitspreises am 29. Mai 2022. Foto: Stadtverwaltung Neustadt

Deutschland, Ende Mai 2022, der Wonnemonat gibt sein Bestes. Gefühlt die halbe Nation ist an diesem verlängerten Wochenende auf Mallorca, während die Hiergebliebenen Rasen mähen, sich aufs Fahrrad schwingen und in die Biergärten ausschwärmen. Gänzliche Unbeschwertheit stellt sich trotzdem nicht ein. Kaum hofft man, Corona überstanden zu haben, drücken der Ukrainekrieg und Inflationssorgen aufs Gemüt. Just in diesen Zeiten wird fernab der Metropolen, im idyllischen Neustadt an der Weinstraße, eines Ereignisses vor 190 Jahren gedacht, das als eine Wiege unserer freiheitlichen Demokratie gilt, das „Hambacher Fest“. Bis zu 30.000 Menschen hatten sich vom 27. bis 29. Mai 1832 aufgemacht, um für ein freies, einiges Deutschland einzutreten. Um die Erinnerung daran wachzuhalten, haben die Neustädter ein dreitägiges Fest unter dem Motto „Mut zur Freiheit“ gefeiert und erstmals den „Hambacher Freiheitspreis 1832“ verliehen – an keinen Geringeren als an Joachim Gauck.

Mit einem großen Seufzer beginnt der Altbundespräsident seine Dankesrede hoch oben im Hambacher Schloss, wo eine Stimmung herrscht wie bei einer Familienfeier, die ihrem Höhepunkt entgegenstrebt. Repräsentanten aus ganz Rheinland-Pfalz sind versammelt, Landes- und Kommunalpolitiker, Honoratioren, Vertreter von Kirchen und Institutionen, Bürgerinnen und Bürger aus der Region und nicht zuletzt eine Neustädter Sonderschulklasse, der an diesem Abend ein weiterer Preis, der „Johann-Friedrich-Abresch-Preis“, überreicht wird, der an den Mann erinnert, der beim Hambacher Fest 1832 als Erster eine schwarz-rot-goldene Fahne trug. Sie alle erwarten voller Freude die Worte des Preisträgers, der, auch wenn schon lange nicht mehr im Amt, doch noch immer der „Bundespräsident der Herzen“ ist.

„Ach,“ seufzt Gauck, „lieber würde ich jetzt einfach so sprechen, von meinem Herzen aus, aber das würde zwei Stunden dauern, und das geht nicht,“ greift er zur Mappe mit seiner vorbereiteten Rede, Rücksicht nehmend darauf, dass die Versammelten schon ein anderthalbstündiges Programm aus Ansprachen und künstlerischen Darbietungen hinter sich gebracht haben. Und doch hält er eine Rede, die aus dem Herzen kommt und zu Herzen geht. 

Joachim Gauck versteht es, das Publikum sofort für sich einzunehmen und eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit zu schaffen. Das beginnt mit der zugewandten Art, in der er die Anwesenden begrüßt. Jeder fühlt sich persönlich angesprochen. Dabei klingt auch der Theologe Gauck durch: „Liebe Bürgerinnen und Bürger dieses wunderschönen Fleckchens Erde hier – wissen Sie eigentlich, in welchem gesegneten Teil Deutschlands Sie wohnen?“, preist er die herrliche Gegend an der pfälzischen Weinstraße.

Zug auf das Hambacher Schloss 1832, kolorierte Federlithographie. © Historisches Museum der Pfalz, Speyer / Peter Haag-Kirchner, HMP Speyer (CC BY-NC-SA)

Ein neues Ja zu Schwarz-Rot-Gold

Tatsächlich hat Joachim Gaucks Rede manchmal etwas predigthaftes. Vor allem aber ist sie eine eindringliche, ermutigende Lehrstunde über die Freiheit, die auch in seiner Zeit als Bundespräsident sein großes Thema war. Vom Hambacher Fest 1832, das in Wahrheit eine Großdemonstration für die Presse- und Meinungsfreiheit war und aus Gründen der Zensur als „Fest“ getarnt wurde, bis heute, bis zur aktuellen Bedrohung der Freiheit in Europa durch die russische Aggression gegen die Ukraine, spannt er dabei den Bogen. Und das auf so kluge, lebendige, nachdenkliche, sympathische und fesselnde Weise, dass man sich wünscht, er würde immer noch amtieren.

Joachim Gauck lobt die Neustädter dafür, mit Stolz an das Hambacher Fest als „Wiege der Demokratie“ zu erinnern, weil es auch den Wert der Freiheit, die allzu oft als Selbstverständlichkeit hingenommen werde, bewusst macht. Und er warnt davor, „den Stolz auf unsere Demokratiegeschichte nicht wagen zu leben, weil es den Stolz derer gibt, die auf ganz andere Dinge stolz sind als wir Demokraten.“ Ebenso plädiert er dafür, die schwarz-rot-goldene Flagge zu bejahen: „Ich möchte, dass sich all diejenigen, die sich über viele Jahre – weil sie so wunderbar fortschrittlich waren – nicht getraut haben, die eigene Farben zu mögen, dass sie sich einmal für einen kleinen Moment selbstkritisch überprüfen. Und ein neues Ja zu unserem Schwarz-Rot-Gold sagen. Das sind gute Farben!“

Die Hauptbotschaft in Joachim Gaucks Rede ist die Verteidigung der Demokratie, die er durch die aktuellen Ereignisse mehr denn je bedroht sieht. Er appelliert daran, das Hambacher Fest nicht nur als historische Erinnerung zu feiern, sondern sich gerade jetzt für die Demokratie stark zu machen und sich nicht zu ängstigen: „Auch heute brauchen wir Mut, Haltung und Engagement. Mehr denn je ist unsere Gesellschaft herausgefordert, die Demokratie gegen ihre Feinde zu schützen – im Inneren wie im Äußeren.“ Im Hinblick auf den Ukrainekrieg sagt er: „Wir lernen heute neu, was schon damals die mutigen Menschen die unter anderem aus Polen, Frankreich und Deutschland zum Hambacher Fest kamen, gewusst haben: Wir müssen uns verbünden, wenn uns Freiheit und Demokratie am Herzen liegen. Schon sie wussten auch: Freiheit ist nicht umsonst zu haben.“ 

Emotionale Lehrstunde in Demokratie

Auf anschauliche Weise gelingt es Joachim Gauck, die Fundamente der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland zu erklären, den Rechtsstaat mit seiner starken sozialen Verpflichtung, dessen Repräsentanten durch freie Wahlen in den Kommunen, Ländern und im Bund bestimmt werden. Im Unterschied zu autokratischen Ländern, wobei er Erdogans Türkei als Negativbeispiel nennt, stünden in Deutschland der Staat und seine Institutionen an der Seite der Bürgerinnen und Bürger, nicht gegen sie. „Das sind unsere Leute, die dort sitzen, wir haben sie delegiert,“ bekräftigt er.

Und er macht deutlich, dass sich eine echte Demokratie auch dadurch auszeichnet, wie sie mit ihren Gegnern umgeht. In Anspielung auf Demonstranten aus der Querdenkerszene, die am Tag zuvor in Neustadt unangenehm aufgefallen waren, erklärt er, dass man auch ertragen müsse, „was uns nicht gefällt – denn wir können nicht alle, die wir für Wirrköpfe halten und die unsere Demokratie verachten, einfach in Lager stecken. Es gibt Gegenden in der Welt, wo man das tut. Das wollen wir nicht.“

Starken Eindruck hinterlässt Joachim Gauck, als er gegen Ende seiner Rede vom Manuskript abweicht, um die Bedeutung von freien Wahlen hervorzuheben und sie nicht als etwas „Stinknormales“ abzutun. An die jungen Leute im Saal gewandt erzählt er, wie er, der ehemalige DDR-Bürger, mit 50 Jahren am 18. März 1990 zum ersten Mal an einer echten demokratischen Wahl teilgenommen hat. Tränen seien ihm aus dem Auge gekullert, als er das Wahllokal verließ, überglücklich, diesen Moment erleben zu dürfen. Mit dieser emotionalen Geschichte erinnert er auch an den Freiheitskampf gegen das DDR-Regime, für den es damals großen Mut brauchte – Mut, der letztlich mit der Deutschen Einheit und einem Leben in Freiheit belohnt wurde.

Man kann die Neustädter nur beglückwünschen zu der Idee, mit großem Engagement und Aufwand an das Hambacher Fest 1832 erinnert und den „Hambacher Freiheitspreis 1832“ gestiftet zu haben. Mit Joachim Gauck haben sie einen Preisträger erkoren, der genau die richtigen Worte gefunden hat, um uns heute wieder den hohen Wert der Freiheit bewusst zu machen  – ganz im Sinne von Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth, den Initiatoren des Hambacher Festes anno 1832. Es ist zu wünschen, dass Joachim Gaucks Hambacher Rede über Neustadt hinaus Widerhall finden wird.

Eine Video-Aufzeichnung des Festaktes im Hambacher Schloss am 29. Mai 2022 mit der Preisverleihung an Joachim Gauck ist auf YouTube zu finden. Seine Dankesrede beginnt bei 1:12:20.  Der vorbereitete Redetext steht auf der Webseite des Altbundespräsidenten zur Verfügung.
Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Neustadt auf dem Hambacher Schloss, von links: der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz, Daniele Schadt, Joachim Gauck, Neustadts Oberbürgermeister Marc Weigel und die Geschäftsführerin der Stiftung Hambacher Schloss, Ulrike Dittrich. Foto: Stadtverwaltung Neustadt

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