Ich habe viele Reden, Appelle, Anklagen und Beschwörungen zum Thema Turbokapitalismus, indigene Völker und Vernichtung des brasilianischen Regenwaldes gehört. Aber selten Worte von so einer Intensität und Überzeugungskraft wie jene von Kay Sara bei den „Wiener Festwochen 2020“. Die indigene Schauspielerin und Aktivistin hielt die Eröffnungsrede, corona-bedingt nur per Video. Kay Sara stand damals, vor drei Jahren, nicht – wie geplant – mit ihrem Rede-Manuskript auf der Bühne des Wiener Burgtheaters. Sie meldete sich in traditioneller Gesichtsbemalung per Video aus ihrer Heimat im Amazonas-Gebiet. Auch die europäisch-brasilianische Neuinszenierung „Antigone im Amazonas“ des Schweizer Regisseurs (und designierten Intendanten der „Wiener Festwochen“) Milo Rau war verschoben worden, mit Kay Sara in der Titelrolle.
Eine Schauspielerin ohne „Theatralik“
Kay Saras kurzen Redetext „Dieser Wahnsinn muss aufhören“, an dem auch Regisseur Rau mitwirkte, finde ich top-aktuell und bemerkenswert vorgetragen. Warum? Wegen der Einfachheit der Worte, und vor allem der Art, wie sie redet. Obwohl Schauspielerin, verzichtet sie auf jede Form von „Theatralik“. Dabei hätte sie ihr Können und ihre darstellerischen Fähigkeiten voll einsetzen können. Tat sie nicht. Sie las sogar einzelne Sätze einfach nur vom Manuskript ab. Ihre Stimme, die ungekünstelte Sprache und die sparsamen Gesten trafen in ihrer Wahrhaftigkeit voll ins Herz. Da wirkt nichts „gewollt“. Das Video ging um die halbe Welt, und mir nicht mehr aus dem Sinn.
Weniger fliegen, weniger rauben, weniger töten. Tatsächlich?
„Vieles ist ungeheuer. Aber nichts ist ungeheurer als der Mensch“ zitiert sie gleich anfangs einen markanten Satz aus der antiken „Antigone“. Dann liest sie uns heutigen Menschen und dem weltumspannenden Turbo-Kapitalismus die Leviten. So viele Pamphlete, Ankündigungen, leere Worte habe sie schon gehört: „Weniger fliegen wollt ihr, weniger rauben, weniger töten. Aber wie könnt ihr glauben, dass euch nach 500 Jahren der Kolonialisierung, nach Tausenden Jahren der Unterjochung der Welt ein Gedanke kommen kann, der nicht nur weitere Zerstörung bringt?“, fragt sie und durchbohrt uns mit ihrem Blick. „Wenn ihr in euch hineinhört, dann findet ihr nur euer schlechtes Gewissen. Und wenn ihr durch die Welt reist, findet ihr nur den Schmutz, mit dem ihr sie besudelt habt. Es gibt nichts, wozu ihr zurückkehren könnt“. (P.S. Vorhin las ich, der Flug-Tourismus boomt diesen Sommer extrem).
„Ihr seid Reden wie diese gewohnt“
Sara Kay raubt uns auch die letzten Illusionen: „Ich weiß: Ihr seid Reden wie diese gewohnt,“ sagt sie. „Das Problem ist nicht, dass ihr nicht wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem ist, dass ihr euch an dieses Wissen gewöhnt habt. Ich sage euch also, was ihr alle wisst: Vor einigen Jahren trockneten die Nebenflüsse des Amazonas zum ersten Mal seit Menschengedenken aus. In zehn Jahren wird das Ökosystem des Amazonas kippen, wenn wir nicht sofort handeln. Das Herz dieses Planeten wird aufhören zu schlagen. Das sagen unsere und das sagen eure Wissenschaftler, und vielleicht ist es das Einzige, worin sie sich einig sind. Wir werden untergehen, wenn wir nicht handeln.“
Eine weltumspannende Gemeinsamkeit
Beeindruckend auch die Passagen, wo sie kurz ihre eigene Herkunft beschreibt: „Meine Mutter, eine Tucana, gab mir den Namen Kay Sara. Das bedeutet: ‚Die sich um andere sorgt‘. Wir Tucano werden Indianer genannt. Aber ich bestehe darauf, dass wir Indigene genannt werden. Denn indigen heißt: einheimisch“. Sie sei eine der letzten ihrer Art.
Die Rede endet mit einem Appell. Wieder mit einem Hinweis auf die Figur der antiken „Antigone“, die Widerstand leistet gegen einen tyrannischen, verbohrten, rechthaberischen Machthaber, indem sie unbeirrt ihrer eigenen Wahrheit folgt: „Dieser Wahnsinn muss aufhören!“ fordert auch Kay Sara. „Seien wir wie Antigone. Lasst uns gemeinsam Widerstand leisten, lasst uns Menschen sein. Jeder in seiner Art und an seinem Ort, vereint durch unsere Unterschiedlichkeit und unsere Liebe zum Leben, das uns alle vereint“.
Derzeit sind in Wien die „Festwochen 2023“ noch bis 21. Juni voll im Gang. Die „Antigone im Amazonas“ war Ende Mai endlich auch live im Burgtheater zu erleben. Großer Erfolg! Auch wenn gerade wieder viele Träume an den realen politischen Machtverhältnissen zerschellen.
Die Rede von Kay Sara wurde bei YouTube veröffentlicht, der Redetext auf der Webseite des ORF. Über das Stück "Antigone im Amazonas" berichtete u.a. die Deutsche Welle. Im Sommer 2023 ist das Stück auf Tournee durch mehrere europäische Länder. Nach der Uraufführung in Gent wurde es in Wien und Frankfurt gezeigt. Weitere Stationen sind am 13.6. und 14.6. Douai (Nordfrankreich) und am 17.6. Rotterdam.