Die Wegbereiterinnen: Lily Montagu und Regina Jonas

Die britische Jüdin Lily Montagu (links) hielt 1928 als erste Frau eine Predigt in einer deutschen Synagoge. Die Berlinerin Regina Jonas war die weltweit erste Rabbinerin. Fotos: Wikipedia

1928. Das Jahr, in dem Alexander Flemming das Penicillin entdeckt und die erste Funksprechverbindung zwischen Deutschland und den USA eingerichtet wird. In dem der Briand-Kellogg-Pakt, der Krieg als Mittel der Politik ablehnt, unterzeichnet und vom Berliner Reichstag ein Kriegsschiffbau-Programm bewilligt wird. In der Dreigroschenoper hält Brecht dem Bürgertum dessen Verlogenheit vor und wird gefeiert – weil sie ihn nicht verstanden haben, wird Hannah Arendt später sagen. In Havanna wird eine Weltfrauenkonferenz beschlossen und in Großbritannien erhalten alle Frauen ab 21 Jahren ohne weitere Bedingungen uneingeschränktes Wahlrecht. Ein Jahr des Aufbruchs in Wissenschaft und Gesellschaft, in dem sich der Umsturz schon ankündigt. In Berlin sorgt am 19. August eine Britin für eine Sensation in der jüdischen Reformgemeinde: Als erste Frau predigt die Ehrenwerte Lily Helen Montagu von der Kanzel einer Synagoge.

Lilian „Lily“ Montagu ist eine Tochter aus reichem Hause orthodoxer Prägung. Geld und Ansehen der Familie tragen dazu bei, dass sie gehört wird im heimischen London. Zum Verdruss des Vaters schlägt die Tochter eine liberale Richtung ein, wird zur treibenden Kraft beim Aufbau der Weltunion für Progressives Judentum, die 1926 gegründet wird. Zwei Jahre später trifft sich die Weltunion in Berlin, wo Fragen der religiösen Gleichberechtigung von Frauen und Männern noch in den Kinderschuhen stecken. Über weibliche Rabbiner wurde bestenfalls im kleinen Kreis nachgedacht. Für Lily Montagu sind das alles keine Hinderungsgründe. Die 54jährige, die von der konservativen jüdischen Publizistin Bertha Badt-Strauss als großgewachsen und mit einem „Gesicht, wie gemeißelt“ beschrieben wird, nimmt sich ihr Recht zu Predigen mit ebenso großer Selbstverständlichkeit wie Behutsamkeit. Eine halbe Stunde lang spricht sie auf Deutsch. Sie schafft es für das liberale Judentum zu werben, ohne die eigenen orthodoxen Wurzeln zu verleugnen oder Orthodoxe zu brüskieren. 

Die „Jüdisch-liberale Zeitung“ berichtete in ihrer Ausgabe vom 24. August 1928 ausführlich über die Weltkonferenz des liberalen Judentums in Berlin. Dass Lily Montagu als Frau eine Predigt hielt, war damals ein Novum und wurde als Sensation aufgefasst. Quelle: Universitätsbibliothek Frankfurt/Main

Türen öffnen, ohne andere zuzuschlagen

Es ist eine Meisterleistung, die Montagu mit ihrer Predigt gelingt. Tragendes Thema ist der Brückenschlag von der Gemeinschaftsreligion zu persönlicher Religion. Für Montagu gibt es hier keine Unvereinbarkeit, sondern einen Ausgleich: „Es gibt gewisse Dinge, die von der religiösen Gemeinschaft ausgehend, unserer persönlichen Religion Nahrung geben; aber nicht durch einen mechanischen Vorgang soll der Einfluss der Vergangenheit aus uns wirken, wir selbst müssen danach streben, uns einzugliedern. Wenn Gott, wie wir glauben, der Gott alles Lebenden ist, so müssen wir versuchen, unser Leben mit dem seinen in Einklang zu bringen. Die Aufgabe ist eine schwierige. Wenn Gott nicht als Urkraft alles Lebenden, sondern als Passivum existieren würde, würde die Annäherung weniger schwer sein. Gott fordert von uns Mitarbeit.“ Das immer wiederkehrende „uns“ in der Predigt von Lily Montagu sorgt dafür, dass sie ihre liberale Gedankenreise antreten und Türen aufstoßen kann, ohne andere hinter sich final zuzuschlagen. Obwohl sie keinen Zweifel an ihrer liberalen Botschaft aufkommen lässt, versucht sie die Angst vor ihr zu nehmen. Sie läutet eine neue Epoche ein, ohne die andere verleugnen. Ist das der Grund, warum sie Goethe zitiert? Der für Sturm und Drang, Klassik und Aufklärung gleichermaßen steht, jemand ist, der die Wurzeln genauso wichtig fand wie die Flügel? Montagu schildert das religiöse Erbe als Fundament, dass es immer wieder zu erwerben gelte, „um es zu besitzen“. Ausgerechnet den von Religion verdrossenen Teufelspaktierer Faust zitiert sie hier, um den Wert von selbst erarbeitetem Wissen herauszustellen, das sie als die Grundlage für lebendiges Judentum ansieht. Die Suche nach Wahrheit eint sie mit Goethes Figur, und der Suche nach Wahrheit gelten auch ihre letzten Worte der Predigt.

Danach spricht sie auf Hebräisch den Aaronitischen Segen. Auch das ein Novum. Auch das ungeheuerlich.

 

„Die Welt besteht nun einmal durch Gott aus zwei Geschlechtern und kann nicht auf die Dauer nur von einem Geschlecht gefördert werden.“ Regina Jonas

 

Die Nachfolgerin

Als dieser bemerkenswerte Auftritt stattfand, war Regina Jonas gerade 26 Jahre alt geworden. Ihr Berufswunsch: Rabbinerin. Anders als Lily Montagu kam die Berlinerin aus einfachen Verhältnissen und war Anhängerin des traditionellen Judentums. Was sie mit ihrer Wegbereiterin verbindet, ist das emanzipatorische Selbstverständnis. Regina sieht keinen Widerspruch zwischen den traditionellen jüdischen Gesetzen und der Gleichberechtigung: „Die Welt besteht nun einmal durch Gott aus zwei Geschlechtern und kann nicht auf die Dauer nur von einem Geschlecht gefördert werden.“ 

1935. Die Luftwaffe wird gegründet, die Wehrpflicht wieder eingeführt und die Reichsmarine in Kriegsmarine umbenannt. Die Nürnberger Gesetze schreiben die schändliche Rassenideologie fest. Militärische und ideologische Aufrüstung statt fortschrittlichen gesellschaftlichen Aufbruchs. Den gibt es nur im Hintergrund: Am 27. Dezember erhält Regina Jonas ihr Diplom, das ihr als weltweit erster Frau bescheinigt, „dass sie geeignet ist, das rabbinische Amt zu bekleiden“ – in Berlin wird sie dennoch nicht als Rabbinerin eingesetzt. Erst nach 1938, als aufgrund der Flucht viele Stellen verwaist waren, wurde sie als Predigerin eingesetzt. Inoffiziell. 

Jonas, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, geriet in Vergessenheit, bis sie 1991 von der evangelischen Theologin Katharina von Kellenbach und der jüdischen Theologin Elisa Klapheck wiederentdeckt wurde. Heute berufen sich Rabbinerinnen weltweit auf sie, die vor 120 Jahren geboren wurde. Mögen ihr noch viele folgen.

Zum Weiterlesen: Einige heutige Rabbinerinnen in Deutschland werden in dem Buch "Reginas Erbinnen", herausgegeben von Antje Yael Deusel und Rocco Thiede, vorgestellt.

 

Der Text der Predigt von Lily Montagu wurde in der Dokumentation der Weltkonferenz des liberalen Judentums veröffentlicht und kann hier heruntergeladen werden. Quelle: Abraham Geiger Kolleg, Uni Potsdam

 

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