Deutschlands erster Storyteller – Hanns Dieter Hüsch zum 100. Geburtstag

Der Meister des literarisches Kabaretts hier bei einem Auftritt Mitte der 1980er Jahre: Hanns Dieter Hüsch verstand es, sein Publikum zu fesseln. Foto: Wikipedia

Hanns Dieter Hüsch? Die Jüngeren kennen ihn nicht, die Älteren haben ihn fast vergessen. Dabei war er einer der beliebtesten Kabarettisten und der größte Kleinkünstler Deutschlands. Und ein außergewöhnlicher Prediger, säkular und fromm zugleich. Vor allem aber war er ein fantastischer Geschichtenerzähler, ein Meister des Storytelling, zu einer Zeit, als es diese Vokabel im deutschen Sprachgebrauch noch gar nicht gab.

„Tach zusammen“, begrüßte das „schwarze Schaf vom Niederrhein“, wie er genannt wurde, das Publikum in seinen Bühnenprogrammen. „Na, wie isset denn? Gut!? Hauptsache!“ Und dann legte er los. Sein Wortschwall und seine Redegeschwindigkeit waren phänomenal, als hätte man eine Langspielplatte auf 78 U/min abgespielt. Was Digital Natives jetzt vielleicht nicht auf Anhieb verstehen, aber nachgoogeln können.

Für heutige Hörgewohnheiten fremd ist die Begleitmusik, mit der er seine Programme untermalte. Er benutzte eine Philicorda, ein einmanualiges elektronisches Tasteninstrument mit einem unnachahmlichen Sound, zwischen Science-Fiction-Sphärenklängen und Türquietschen changierend. Böse Zungen würden sagen, eine Kleinorgel für Kleinbürger. Als ich klein war, hatten wir auch eine zuhause, muss ich zugeben. Aber auch das hat mir Hanns Dieter Hüsch sympathisch gemacht.

In bester lutherischer Tradition

Doch wenden wir uns seinem Hauptwerk, seinen Texten zu. Bei ihnen hat er in bester lutherischer Tradition dem Volk aufs Maul geschaut. Voller Wahrheit, voller Weisheit, voller Witz. Und sie hatten ein literarisches Niveau, das heutige Comedians und Entertainer selten erreichen. Kostprobe? Bitte sehr. Es gibt kein Thema, das für ihn kein Thema war.

  • Zum Sinn des Lebens: „Die einen spielen Tennis, die anderen Aufklärung, die meisten aber sitzen an der Bettkante und wissen nicht weiter.“
  • Zum Thema Geld: „Geld allein macht nicht glücklich. Es gehört auch ein bisschen Neid der anderen dazu.“
  • Zum Thema Familie: „In der Familie lernt man die wichtigsten Dinge: Streiten, sich wieder vertragen und das letzte Stück Kuchen teilen.“
  • Zum Thema Heimat, das war der Niederrhein, wo er am 6. Mai 1925 geboren wurde: „Der Niederrhein ist keine Gegend, das ist eine Gemütslage.“

Wie wahr!

Ich habe selbst mal eine Zeitlang am Niederrhein gewohnt und kann das bestätigen. Hier wechseln sich Momente stiller Melancholie und lauter Lebenslust ständig ab. Besonderen Stellenwert hat das bodenständige Wort von Mensch zu Mensch.

Wie an der Klöntür

Unser Haus hatte eine sogenannte Klöntür. Das war eine Haustür, bei der man die obere Hälfte aufsperren konnte, um mit den Nachbarn endlos über Gott und die Welt zu klönen, und die untere Hälfte zu blieb, damit der Hund nicht rauslief. Eine intelligente Konstruktion, um endlos zu erzählen, zu meckern, zu plaudern, zu palavern, zu schwaden, zu tratschen, zu quasseln…

„An der Hausthür“. Ölgemälde einer Klöntür aus dem 19. Jahrhundert. Von Carl Ludwig Jessen © Abb. mit freundlicher Genehmigung des Kunstauktionshauses Schloss Ahlden

Genauso endlos sprudelten die Worte aus Hanns Dieter Hüsch heraus, als säße er nicht auf der Bühne, sondern lugte aus der Klöntür hervor. Ich habe gerade antiquarisch einen prächtigen Bildband von ihm erworben, Titel: „Ein Gruß aus der Heimat – die schönsten Seiten vom Niederrhein“. Er beschreibt darin diese immer noch unentdeckte und unterbewertete Landschaft, indem er die Zuhörer auf eine Jahresreise durch sie mitnimmt und jedem Monat ein eigenes Kapitel widmet. Als ich anfing zu lesen, ging ich unweigerlich dazu über, die Texte laut vor mich hin zu sprechen. Man kommt dabei in einen Erzählfluss, der eine solche Freude macht, dass man nicht mehr aufhören mag.

Das Überraschende und Einzigartige an seinen Texten ist die Heiterkeit, die Weltklugheit, die Menschenliebe, mit der Hüsch der chaotischen und verrückten Welt poetisch gegenübertritt. „Ich sing‘ für die Verrückten / Die seitlich Umgeknickten / Die eines Tag’s nach vorne fallen / Und unbemerkt von allen / An ihrem Tisch in Küchen sitzen / Und keiner Weltanschauung nützen.“

Aber das ist noch nicht alles.

Fromm, aber nicht lammfromm

Hanns Dieter Hüsch übte nicht nur glühende Gesellschaftskritik, er erzählte auch gerne „poetisch-küchenmenschliche“ und „nachdenkliche Nachhause-Geschichten“, mit denen er seinem Publikum Freundlichkeit, Geduld und Nachsicht im Alltag empfahl. Es war eine neue Art von Frömmigkeit, die er in seinen Kabarettprogrammen auf die Bühne brachte. Fromm, aber nicht lammfromm. Damit kam er gut an. Und das vor dem Hintergrund, dass die Frömmigkeit in Deutschland Ende des 20. Jahrhunderts aus dem öffentlichen Leben immer mehr verschwand. Die Fußballstadien wurden voller, die Kirchen leerer.

Zur Jahrtausendwende, Hüsch war damals 75 Jahre alt, erhielt er für diesen Aspekt seines Schaffens den erstmals verliehenen deutschen Predigtpreis für sein Lebenswerk.

Fürsprecher und Laudator war der Bonner Theologieprofessor Reinhard Schmidt-Rost. Er würdigte Hüsch als einen „glänzenden Rhetoriker auf Kanzel und Bühnen im deutschsprachigen Raum“ und lobte seine „lebendige Sprache und die Gabe, scharfsinnig zu formulieren.“ Die Kunstfertigkeit und Leichtigkeit seiner Predigt seien einzig, „seine Worte rühren an“, so der Professor.

Die Auszeichnung hat bundesweit Schlagzeilen gemacht. Trotzdem geriet Hanns Dieter Hüsch immer mehr in Vergessenheit. Kaum vorstellbar, dass er einmal der Star auf evangelischen Kirchentagen war. Heute hätte er dort womöglich Auftrittsverbot.

Ich begriff, dass es nicht darauf ankommt, die Welt zu verändern, sondern sie so zu beschreiben, wie sie ist.

Trotzdem hat Hüsch im deutschsprachigen Raum immer noch nachhaltigen Einfluss auf die schreibende und redende Zunft. Anlässlich seines 90. Geburtstags erinnerte sich Henryk M. Broder an seinen ersten Besuch eines Programms von Hanns Dieter Hüsch in Köln. „Dieser Abend hat mein Leben verändert. Ich wurde süchtig nach Hüsch. Er brachte mir das Hören, das Sehen und auch das Sprechen beziehungsweise Schreiben bei. Bei ihm lernte ich, dass es nicht auf das große Ganze ankommt, sondern gerade auf die Details, die überhört und übersehen werden, oder – wie Hüsch sagen würde – , dass man darauf achten muss, »wie die Welt zusammenhängt und wie sie auseinanderfällt.« Ich begriff, dass es nicht darauf ankommt, die Welt zu verändern, sondern sie so zu beschreiben, wie sie ist.“

Zu seinem 100. Geburtstag hat der Freundeskreis Hanns Dieter Hüsch e.V. einen Erinnerungsband herausgegeben, in dem sich Prominente aus Kabarett, Journalismus, Publizistik und Politik wie Jürgen Becker, Henryk M. Broder, Margot Käßmann, Renate Künast, Harald Martenstein und Mathias Richling zu Hüsch als Quelle der Inspiration bekennen.

Ein bemerkenswertes Zitat über die einzigartige Faszination, die Hanns Dieter Hüsch auf das Publikum ausübte, stammt von Klaus Harpprecht, dem Berater und Redenschreiber von Bundeskanzler Willy Brandt. In der ZEIT schrieb er: „Was immer sein Geheimnis sein mag: Um ihn sammelt sich eine Gemeinde, wo und wofür und wogegen er auch auftritt, spontan und mit einer unaufhaltsamen Dynamik. Er könnte eine Kirche gründen.“

Heute liegen Hüschs gesammelten Werke aus jahrzehntelangem Schaffen in einer achtbändigen Ausgabe vor, die zum Wiederentdecken einlädt. Prädikat: Besonders lesenswert. Eine der besten Schulen für packendes Storytelling.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.