Wer sein Publikum für sich gewinnen will, muss es unterhalten und ihm nützen. „Delectare et prodesse“ – das ist seit der Antike die Forderung an jede gute Rede. Legt man diesen Maßstab an Hauptversammlungsreden an, ist das Ergebnis ernüchternd. Schon der Nutzen so mancher CEO-Rede lässt sich infrage stellen, wenn sie gegenüber dem Geschäftsbericht kaum zusätzliche Informationen anzubieten hat. Doch welche HV-Rede erfreut oder erheitert ihre Zuhörer*innen schon?
Ohne Unterhaltung geht es nicht
Nun gut, werden Sie einwenden, dieser Anspruch sei doch etwas hochgegriffen. Eine Hauptversammlung sei schließlich keine Verkaufsveranstaltung. Ihr primäres Ziel ist es, gegenüber den Eigentümer*innen eines Unternehmens Rechenschaft abzulegen. Und genau deshalb ist die Hauptversammlung in gewisser Hinsicht doch eine Verkaufsveranstaltung! Natürlich werden hier keine Produkte an die Frau oder den Mann gebracht. Aber es soll ein Investment schmackhaft gemacht werden. Das heißt: Je attraktiver die Story ist, die erzählt wird, je überzeugender der Redner ist, der sie zum Besten gibt und je mittreißender dies geschieht, desto eher werden die Investor*innen sie „kaufen“ und Anteile des Unternehmens erwerben beziehungsweise halten.
Ferner müssen wir berücksichtigen, dass sich die CEO-Rede auf der Hauptversammlung nicht nur an die Eigentümer*innen richtet. Auch die Mitarbeiter*innen wollen an diesem Tag stolz auf ihr Unternehmen sein können. Und die Wirtschaftsmedien hören ebenfalls aufmerksam zu. Die Hauptversammlung ist inzwischen weit mehr als nur ein Pflichttermin im Finanzkalender börsennotierter Gesellschaften. Sie hat sich auch zum Wettbewerb um die beste Selbstdarstellung der CEOs entwickelt.
Ohne Unterhaltung geht es also nicht. Dazu stehen dem Redner (bei Merck künftig der Rednerin) einige Mittel zur Verfügung – von kurzweiligen Geschichten, die in die Rede eingewoben sind, über Humor bis hin zu einer erfrischend neuen Erzählweise, das heißt dem gezielten Bruch mit dem konventionellen Aufbau der Hauptversammlungsrede. Daran hat sich Ola Källenius 2020 versucht: Er strukturierte seine erste HV-Rede als Daimler-CEO entlang von 10 Zahlen.
Aller Anfang ist schwer
Eine besondere Bedeutung fällt dem Redeeinstieg zu. Denn die Frage, ob eine Rede unterhält oder nicht, stellt sich gar nicht mehr, wenn der Redner seine Zuhörer*innen schon nach wenigen Worten verloren hat. Der Einstieg muss sitzen. Bei einer virtuellen HV noch mehr als bei einer Präsenzveranstaltung, da das Ablenkungspotenzial höher und die Schwelle, sich anderweitig zu beschäftigen, geringer ausfällt. Eine kniffelige Aufgabe für Vorstandschefs und ihre Redenschreiber*innen – und eines der Beurteilungskriterien der diesjährigen Redeanalysen des VRdS.
Ich habe mir die HV-Reden des letzten Jahres angehört, die ja größtenteils bereits digital stattgefunden haben. Mein Interesse galt dem Redeeinstieg. Ich wollte wissen, wem es besonders gut gelungen ist, von Anfang an Interesse zu wecken und Spannung aufzubauen. Speziell drei Redeeinstiege haben mich überzeugt.
1. Deutsche Telekom
Sowohl BMW als auch die Telekom begingen letztes Jahr ein Jubiläum: Der Münchner Autobauer richtete die 100. Hauptversammlung aus. Der Konzern aus Bonn feierte sein 25-jähriges Bestehen. Beide Unternehmen greifen das Jubiläum gleich zu Beginn ihrer CEO-Reden auf. Tim Höttges macht aber mehr daraus, indem er den Firmengeburtstag direkt für die Kernbotschaft seiner Rede „Die Telekom gestaltet Wandel“ einspannt: Er beschreibt zentrale Eigenschaften der Telekom heute und stellt sie denen von vor 25 Jahren gegenüber. Der Kontrast wirkt – und lässt die Zuhörer*innen gespannt sein, welche Veränderungen die Telekom als nächstes anstößt.
2. Siemens
Vorstandschef Joe Kaeser beginnt seine Rede mit einer ausführlichen und klug argumentierten Stellungnahme zur öffentlichen Kritik an Siemens aufgrund der Annahme eines Geschäftsauftrags für eine australische Kohlemine. Damit greift er nicht nur ein aktuelles Thema auf, das auch die Aktionär*innen interessieren dürfte. Vielmehr nimmt Kaeser sein Publikum in eine spannende Auseinandersetzung zwischen Klimaaktivist*innen und Großkonzern mit und zeigt selbstbewusst Haltung. So wird die Rede gleich zu Beginn zum Führungsinstrument.
3. Continental
CEO Elmar Degenhart macht etwas, das auf Hauptversammlungen viel zu selten getan wird: Er zeigt ein Produkt. Nicht als Abbildung in PowerPoint, sondern real in seinen Händen. Degenhart präsentiert einen Rechner, der künftig in Autos eingebaut werden soll, um sie intelligenter zu machen. Mit dieser Innovation, die er später erneut aufgreift, hält er seinen Zuhörer*innen im übertragenen Sinne auch die Kernbotschaft seiner Rede vor Augen: Continental steuert mit Innovationen aus der Krise.
Dies sind drei unterschiedliche Redeeinstiege, die jedoch eines gemein haben: Sie wecken das Interesse des Publikums. Indem die Rede anders startet als erwartet. Indem sie den Zuhörer*innen Bilder, Geschichten und Erlebnisse beschert. Indem der Redner von Anfang an unterhält. Ein gelungener Redeeinstieg ist noch keine Gewähr, dass auch der Rest der Rede erfreut und nützt. Doch damit ist die erste wichtige Hürde genommen. Und das dürfte auch den Redner erfreuen und ihm für den Fortgang seiner Rede nützen.